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Denn: Bis zu seiner Zeit war die Biologie eine sogenannte "atomistische" Naturwissenschaft, das heisst, es wurde reduktionistisch gedacht und geforscht, das Leben wurde in einzelne Segmente zerteilt und diese wurden getrennt voneinander betrachtet. Es wurden die chemischen, physikalischen und mechanischen Prozesse in den Lebewesen erforscht. Uexküll hat nun eine für die damalige Wissenschaft ganz neuartige Fragestellung aufgeworfen, nämlich die Frage nach den Beziehungen der Lebewesen zu ihrer Umgebung. Er wollte keine mathematische Naturerklärung finden, welche die Naturereignisse quantitativ rechenbar machen, sondern er wollte zeigen, wie Lebewesen durch die spezifische Struktur ihrer Organismen auf ihre Umwelt ausgerichtet sind. Er wendet sich damit zum Einen gegen behaviouristische Vorstellungen, und zum Anderen auch gegen die weit verbreitete biologische Annahme, die auf Charles Darwin zurückgeht, nämlich dass lebende Organismen ein Produkt zufälliger Umbildungsprozesse seien, von denen die natürliche Auslese die geeignetsten erhalten habe. Diese rein mechanischen Vorstellungen über den Ablauf der Evolution sind nicht mit den von Uexküll beobachteten Tatsachen in Übereinstimmung zu bringen. Ein wachsender, lebendiger Organismus stellt sich in Uexkülls Beobachtungen als planmäßig gefügtes Ganzes dar, das auf seine spezifische Umwelt ausgerichtet und angewiesen ist. Die unterschiedlichen Sinnesorgane der Lebewesen mit ihren unterschiedlichen Funktionsweisen sind nach Uexküll ein Anzeichen dafür, dass Lebewesen ihre Umwelt auch jeweils unterschiedlich wahrnehmen und entsprechend auch unterschiedlich auf sie reagieren. Diese Erkenntnis beinhaltet auch, dass Umgebungen für unterschiedliche Lebewesen bestimmte spezifische Merkmale (das, was ein Subjekt merkt) und diese jeweils eine spezifische Bedeutung haben. Auf diese unterschiedlichen Bedeutungswahrnehmungen sind Verhaltensunterschiede zurückzuführen. Uexküll spricht dabei von den unterschiedlichen Merkwelten und unterschiedlichen Wirkwelten. Verschiedene Subjekte merken unterschiedlich und wirken unterschiedlich. Diese besonderen wahrgenommenen Merkmale und die mit ihnen assoziierten Bedeutungen sind nicht nur zwischen verschiedenen Gattungen unterschiedlich, sondern variieren (vor allem beim Menschen) auch von Individuum zu Individuum. Dies kann die folgende Abbildung aus dem Buch zeigen: (Abb. 52+53, S.95) Der Förster nimmt die Eiche anders wahr, als das kleine Mädchen. Beide haben jeweils eine individuelle Ausrichtung auf ihre Umgebung, sie sind auf unterschiedliche Merkmale ausgerichtet und die wahrgenommenen Objekte haben eine individuelle subjektive Bedeutung. Sie empfinden und verhalten sich unterschiedlich. Mit Uexkülls Sprache: Sie leben in verschiedenen Merkwelten und verschiedenen Wirkwelten. Es ging Uexküll also um die Frage, wie Lebewesen subjektiv ihre Umwelt wahrnehmen und wie diese spezifische Wahrnehmung ihr Verhalten bestimmt. Um ein Lebewesen und sein Verhalten vollständig zu verstehen, genügt es nicht, quantifizierbare Daten über seinen Körper und dessen Funktionen herauszuarbeiten, sondern man muss zusätzlich dazu auch die Beziehung des Wesens zu seiner Umgebung verstehen, sein Erleben. Hierzu muss man sich möglichst weit in das zu untersuchende Subjekt hineinversetzen. Uexküll bringt damit Aspekte in den biologischen Diskurs hinein, die bis dahin unberücksichtigt geblieben oder sogar als unwissenschaftlich abgetan worden waren. Die subjektive Welt mit ihren erfahrenen Eigenschaften, mit Farben, Formen, Tönen, Düften, Schmerzen und Lüsten, kam nun als vollwertiger - ja sogar notwendiger - Forschungsbereich der Biologie dazu. Dies ist eine (für damalige Verhältnisse) neue Denkweise - die Lebewesen über ihre Beziehungen zu ihrer Umwelt zu erforschen. Durch diese neue Denkweise hat Jakob von Uexküll dazu beigetragen, dass sich ein ganzheitlicheres Naturverständnis entwickeln kann. Die Lebewesen werden von ihm nicht mehr nur als Untersuchungsobjekte gesehen, sondern es wird auch jeweils die Subjektperspektive berücksichtigt. Bis zu seiner Zeit herrschte in den Wissenschaften die Ansicht, dass an einem Lebewesen nur entweder der Körper oder sein Erleben studiert werden könne. Uexküll zeigte den Zusammenhang zwischen Körper und Erleben auf. Er zeigte, dass die Organisation des Körpers mit der Wahrnehmung und Bedeutung in direktem Zusammenhang steht. Zwei Zitate von Uexküll können dies verdeutlichen: "Alle Wirklichkeit ist subjektive Erscheinung". Er geht also davon aus, dass die wahrgenommenen Objekte/Gegenstände Erscheinungen sind, deren Aufbau mit der Struktur des wahrnehmenden Subjekts zusammenhängt. Mit dieser Sichtweise knüpft Uexküll an Immanuel Kant an, dessen Ansichten er ins Biologische überträgt. Uexküll leitet aus der Struktur der Sinnesorgane eines Lebewesens die Struktur der Wahrnehmungs- und Bedeutungsmuster ab. Er untersucht die biologischen und psychologischen Voraussetzungen der Raumwahrnehmung. "Der Raum verdankt sein Dasein der inneren Organisation des Subjektes Mensch, welche die Sinnesqualitäten in räumliche Form kleidet." Aufgrund der Erkenntnisse Kants, meint Uexküll, müsse die Biologie zwei Aufgaben erfüllen. Zunächst müsse die Rolle erforscht werden, die den Sinnesorganen und dem Zentralnervensystem bei der Konstruktion der "Wirklichkeit" zukommt. Danach müsse die Beziehung der Subjekte zu den Gegenständen untersucht werden. Was Uexküll interessiert, ist also in erster Linie die subjektive Wirklichkeit von Mensch und Tier. Er will also z.B. untersuchen, wie die Raum- oder Zeitempfindung des Menschen zustandekommt oder auf welche Weise etwa eine Biene oder ein Hund die Welt erlebt. Und hier wird es jetzt auch für uns interessant, wenn wir uns mit Bewegung beschäftigen. Denn Bewegung findet immer im Raum statt. Und die Wahrnehmung von Räumlichkeit ist nicht ohne eine zeitliche Abfolge denkbar. In der Bewegung bilden Raum und Zeit eine Einheit. Diese Erkenntnisse führen zu der Feststellung, dass Raum und Zeit keinesfalls objektiv und absolut vorhanden sind, wie es uns oft erscheinen mag, sondern dass Raum und Zeit relativ subjektive, individuell unterschiedliche Wahrnehmungskategorien darstellen. Uexküll folgt hier Immanuel Kant, der diese Feststellung bereits in der "Kritik der reinen Vernunft" gemacht hat, und natürlich auch Albert Einsteins Relativitätstheorie, in der die Einheit von Raum und Zeit mathematisch nachgewiesen wurde. Uexküll fügt den philosophischen und den physikalischen Argumenten für diese Feststellung noch die biologischen hinzu. Die Relativität der Zeit können wir uns an folgendem Beispiel deutlich machen: Stellen wir uns vor, wir wären in einem steckengeliebenen Fahrstuhl eingesperrt. Wenn man sich für einige Zeit in einem so kleinen geschlossenen Raum ohne Verbindung zur Außenwelt aufhält, kann es schnell passieren, dass die genaue Zeitwahrnehmung zu verschwimmen beginnt (vorausgesetzt man hat keine Uhr dabei um das subjektive Zeitempfinden zu objektivieren.). Zehn Minuten in so einer reizarmen und angsterzeugenden Umgebung ohne Aussicht auf Veränderung des Zustands können leicht wie eine halbe Stunde oder länger empfunden werden. Andere Lebewesen leben durchaus mit anderen Zeiten. Uexküll bringt hier das Beispiel einer Zecke, die im Wald auf dem Ast eines Baumes sitzt und darauf wartet, dass ein Säugetier unter dem Ast vorbeilaüft, so dass sie sich darauf fallen lassen kann, um Blut zu saugen. Untersuchungen haben ergeben, dass Zecken 18 Jahre ohne Nahrung überleben können. Dass bedeutet, dass die Zecke durchaus 18 Jahre lang auf diesem Ast warten könnte, bis sie ihre nächste Mahlzeit zu sich nimmt. Die subjektive Zeit einer Zecke ist demnach von dem Zeitempfinden der Menschen deutlich verschieden. Zurück zur Bewegung: Uexküll stellt beim Menschen fest, dass vor allem zwei Sinne spezifisch raumbildend wirken: Der Tastsinn und der Gesichtssinn. Das bedeutet, dass Menschen biologisch erforschbare Sinne angeborenen sind, die eine spezifische Raumwahrnehmung ermöglichen, ja die ein Erlernen dieser Raumwahrnehmung sogar überlebensnotwendig machen. "Erlernen" bedeutet, dass die Raumwahrnehmung also nicht vollständig durch die angeborenen Sinnesorgane determiniert ist, sondern immer auch durch subjektive Erfahrungen, in individuellen Lernprozessen strukturiert wird. Und diese Lernprozesse können nur stattfinden, wenn Bewegung erfahren wird, also wenn der Organismus räumlich und zeitlich unterscheidbare Sinneseindrücke aufnimmt. Wenn wir z.B. mit dem Finger an unserem Arm entlangfahren, dann werden nacheinander einzelne Stellen der Haut gereizt. Uexküll spricht hierbei von "Lokalzeichen": Ein Lokalzeichen wird wahrgenommen, bevor es abklingt wird ein nächstes wiederum aktiviert. Durch diese Konstellation der Reizung einzelner Orte nacheinander entsteht in uns eine neue Qualität, die Empfindung einer Richtung. Ähnlich ist es bei einer optischen Wahrnehmung einer Bewegung. Diese wird durch einen vergleichbaren Vorgang ermöglicht. Sehen wir z.B. auf eine Krähe, die von einem Baum zu einem anderen fliegt, sehen wir ihre Bewegung, weil auf der Netzhaut nacheinander, mit hoher Geschwindigkeit, nahe beieinanderliegende Rezeptoren hintereinander aktiviert werden; wir sehen also viele, leicht versetzte Einzelbilder, die von unserem Gehirn als Bewegung interpretiert werden. Diese "Bewegung" ist also von uns konstruiert! Die auf der Netzhaut im Auge aktivierten Orte werden von uns gedanklich "hinausverlegt"; d.h. in Wahrheit werden Rezeptoren im Auge gereizt, wir "projezieren" die Reizung aber "nach aussen" und schaffen so eine "äußere" Wirklichkeit. Durch derartige Lernprozesse bilden die Organismen ein subjektives Raumempfinden heran. Uexküll spricht von einem subjektiven Wirkraum. Der Wirkraum ist der Raum, in dem ein Lebewesen wirkt, also z.B. der Bewegungsspielraum eines Menschen. Der Wirkraum des Menschen hat sechs Richtungen: rechts, links, oben, unten, vorn und hinten - die 3 mathematischen Dimensionen des Raumes. (Tafelbild: 3D-Koordinatensystem) Diese sechs Richtungen bzw. drei Dimensionen haben eine biologisch fassbare Repräsentation im Körper: Die drei Bogengänge des Gleichgewichtsorgans im Innenohr. Alle Lebewesen, die ein solches Organ mit drei Bogengängen haben, verfügen über einen dreidimensionalen Wirkraum. Über dieses Sinnesorgan kann man also biologische Aussagen über die subjektive Wirklichkeit von Lebewesen machen. Unser subjektiver Wirkraum ist uns wohlbekannt, denn wir alle haben ein Gefühl für unsere Bewegungen in diesem Raum. Allerdings ist der Grad der Bewusstheit für die Bewegungen individuell unterschiedlich ausgeprägt. Die Feinheit der motorischen und kinästhetischen Wahrnehmung ist bei jedem Menschen unterschiedlich - und sie ist trainierbar. | |
Wir kommen nun zu den praktischen Körperübungen, damit wir uns einmal in der konkreten Erfahrung über unsere Bewegungen im Wirkraum bewusst werden können. Ich möchte mit diesen Übungen deutlich machen, wie sehr wir an unseren individuellen Wirkraum gewöhnt sind. Diese Gewöhnung wird dann besonders deutlich, wenn wir Bewegungen machen, die neu für uns sind, also wenn wir unsere gewohnten Muster verlassen. Erfahrungsübung 1: Zunächst eine Übung, die die drei Dimensionen unseres Wirkraums empirisch erfahrbar macht: Mit geschlossenen Augen die flache Handfläche bewegen, und zwar 1. vor dem Gesicht horizontal - dabei die gefühlte "Grenze" zwischen rechts / links spüren 2. vor dem Gesicht vertikal - dabei oben / unten unterscheiden 3. seitlich neben dem Kopf - dabei vorne / hinten unterscheiden Erfahrungsübung 2: Mit geschlossenen Augen die Zeigefinger aus 50 cm Abstand zusammenführen. Erfahrungsübung 3: Mit geschlossenen Augen schreiben (Schmierpapier austeilen; gegenseitiges Diktieren) Erfahrungsübung 4: Im Stand die gestreckten Arme kreisen: 1. beide vorwärts 2. beide rückwärts 3. links 4. rechts 5. beide Arme gegenläufig: einen vorwärts, den anderen rückwärts |
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