| zurück zum Inhalt nach unten 1. Vorbemerkungen Zuallererst sei darauf hingewiesen, dass der Begriff des Schusswaffengebrauchs von dem Begriff des Schusswaffeneinsatzes unterschieden wird. "Ein Schusswaffeneinsatz" beinhaltet sämtliche Handlungen im Zusammenhang mit der Schusswaffe, also auch die psychologische und taktische Verwendung der Schusswaffe beim bloßen Tragen. "Schusswaffeneinsatz" beinhaltet also auch alle Formen des Nichtschießens. "Schusswaffengebrauch" dagegen bezeichnet die wirkliche Schussabgabe, ob als Warnschuss oder als gezielter Schuss. (1 S.16)
In diesem Text soll weder die Sinnhaftigkeit des Schusswaffengebrauchs zur Diskussion gestellt werden, noch dessen Effektivität, sondern es sollen sozio- und psychologische Aspekte und Probleme beleuchtet werden, die im Zusammenhang mit dem Schusswaffengebrauch als einer Zwangsform im Rahmen des staatlichen Gewaltmonopols stehen.
Ich stütze mich dabei im wesentlichen auf zwei Textgrundlagen: Zum einen die empirisch-psychologische Analyse des Schusswaffeneinsatzes von Clemens Lorei 1, zum anderen auf das von Norbert Elias in seinem Werk "Über den Prozess der Zivilisation" 2 vorgelegte Schema zum Zivilisierungsprozess menschlichen Verhaltens.
zurück zum Inhalt nach oben nach unten 2. Einleitung Die Polizei hat die allgemeine Aufgabe, Gefahren von der Allgemeinheit oder dem Einzelnen abzuwehren, durch die die öffentliche Sicherheit und Ordnung bedroht wird. Zur Durchführung dieser Aufgabe haben die Polizisten das Recht, im Rahmen des gesetzlich geregelten staatlichen Gewaltmonopols, Schusswaffen als Mittel des unmittelbaren Zwanges einzusetzen.
Norbert Elias beschreibt die Gewaltmonopolisten moderner Staaten wie folgt: "Spezialisierte[n] bewaffnete[n] Gruppen [...], wie etwa [die] Polizei, deren generelle Funktion darin besteht, die Staatsmitglieder in ihrem Umgang miteinander zu schützen und jeden zur Rechenschaft zu ziehen, der den Gesetzen zuwiderhandelt. Die Zivilisierung dieser Monopolisten der physischen Gewalt [...] ist ein ungelöstes Problem." (4, S.125)
Polizisten fungieren also einerseits als ein staatliches Zwangsinstrument, um gewisse Verhaltensstandards in der Öffentlichkeit durch Fremdzwang zu festigen, andererseits müssen sie selbst auch diesen Grad an Verhaltenskontrolle erlernen und aufrechterhalten.
Die Frage ist nun: Sind Schießausbildung und gesetzliche Regelungen zum Schusswaffengebrauch geeignet, um bei Polizisten das erwünschte Maß an Selbstzwangverhalten, also einen erwünschten Grad an Zivilisierung zu erreichen und zu festigen, oder erschwert die Möglichkeit bzw. die Notwendigkeit mit Waffen und anderen Zwangsmitteln umzugehen bei Polizisten genau diesen Lernprozess?
Ein statistisches Beispiel zur Verdeutlichung der Problematik: Im Jahre 1996 erfolgte in Deutschland 79 mal polizeilicher Schusswaffengebrauch auf Personen, davon wurden 16 Schüsse in der Retrospektive als unzulässig bewertet, ein Mensch wurde getötet, drei verletzt. Der prozentuale Anteil der unzulässigen Schüsse auf Personenziele beträgt damit 20,3 %. (1 , S. 29)
Aus dieser und anderen statistischen Betrachtungen zieht Clemens Lorei die Schlussfolgerung, dass der fortgeschrittene Schusswaffeneinsatz nicht zu einer extremen polizeilichen Ausnahmesituation gehört, sondern "auf Grund seiner Häufigkeit schon im Bereich der Routine angesetzt werden muss." Diese "Routinetätigkeit" stellt jedoch, so Lorei "immer wieder eine "Ausnahmesituation" dar, d.h. sie ist einerseits zwar sehr häufig anzutreffen, andererseits aber immer wieder u.a. mit Stress, Angst und besonderer Aufmerksamkeit und Vorsicht verbunden. Dies verlangt von dem Polizeibeamten ein routiniertes Vorgehen, das aber durch ständige Aufmerksamkeit und Erwartung eines nicht-routinehaften Verlaufs der Lage geprägt ist." (1 , S. 33)
Ich möchte im Folgenden einerseits rechtliche Aspekte zum Schusswaffengebrauch der Polizei beleuchten, und damit die Frage stellen, ob und vor allem inwieweit die rechtlichen Rahmenbedingungen, andererseits aber auch die polizeiliche Schießausbildung als ein staatliches Instrument zur Zivilisierung des Verhaltens der Polizeibeamten funktionieren (können).
Als Kriterium der Zivilisierung soll (nach Norbert Elias) die Fähigkeit zu einer differenzierten, gleichmäßigen und stabilen Selbstregulierung des eigenen Verhaltens gelten, die einem Polizeibeamten in Situationen des Schusswaffeneinsatzes eine Kontrolle seiner natürlichen Trieb- und Affektzwänge (z.B. Aggressionen) ermöglicht.
zurück zum Inhalt nach oben nach unten 3. Kurze Zusammenfassung des Kerns von Elias' Zivilisationstheorie Norbert Elias geht davon aus, dass zivilisiertes Verhalten den Menschen nicht angeboren ist, dass es aber eine biologische Anlage im Menschen gibt, die unter bestimmten Bedingungen das Erlernen von zivilisiertem Verhalten möglich macht. Zivilisierung bedeutet bei Elias, dass ein Mensch durch erlernte "individuelle Selbstregulierung momentaner trieb- und affektbedingter Verhaltensimpulse" 3 die Fähigkeit entwickeln kann, sein Verhalten zu reflektieren und daraufhin von einem stark emotionalen, engagierten Verhalten, hin zu einem mehr von spontanen Trieben und Affekten distanzierten Handeln zu gelangen. Menschen besitzen im Unterschied zu manchen anderen sozialen Lebewesen keine angeborene Trieb- und Affektregelung, sondern, so Elias, sie sind "ganz auf die Mobilisierung ihrer natürlichen Anlage zur Selbstregulierung durch das persönliche Lernen von Trieb- und Affektkontrollen im Sinne gesellschaftsspezifischer Zivilisationsmuster angewiesen, um mit sich selbst und mit anderen Menschen leben zu können." 3 Dies bedeutet also, Menschen können nicht nur, sondern sie müssen ein wie auch immer geartetes Selbstzwangverhalten erlernen, um zu überleben.
Gesellschaftliche Fremdzwänge, die längerfristig auf Menschen einwirken, können unter bestimmten Umständen durch Lernprozesse so zum Habitus eines Menschen werden, dass sie zu einem relativ autonom ablaufenden Selbstzwangverhalten führen. Der Zwang, den Menschen mit Hilfe von Gesetzen auf Menschen ausüben, ist beispielsweise so ein Fremdzwang, der durch Lernprozesse zu einem Selbstzwang wird.
Die Struktur der Zwänge, die auf Menschen einwirken, spiegelt sich dann nach erfolgter Internalisierung in der Struktur der Verhaltens- und Empfindensmuster wieder. Ein so geprägter Mensch empfindet eine gelernte Selbstkontrolle des eigenen Verhaltens als selbstverständlichen Teil seiner Identität, als "zweite Natur". Sein Habitus weist internalisierte Hemmschwellen auf, deren Überschreitung mit Angstmechanismen gesichert sind. Gewalttätiges Verhalten ist somit tabuisiert, an seine Stelle treten erlernte Ersatzhandlungen, wie z.B. die Fähigkeit, Konflikte auf verbaler, also symbolischer Ebene zu lösen und auf körperliche Aggression zu verzichten.
Ein weiterer Aspekt von Elias Theorie zum zivilisierten Verhalten ist auch die erlernbare Fähigkeit eines Menschen, sich mit anderen Menschen zu identifizieren, also Mitgefühl zu empfinden: "'Entzivilisierung' bedeutet dann eine Veränderung in entgegengesetzter Richtung, eine Verringerung der Reichweite des Mitgefühls." 3 |
| zurück zum Inhalt nach oben nach unten 4. Die rechtliche Situation des polizeilichen Schusswaffengebrauchs Maßgeblich beim polizeilichen Schusswaffengebrauch ist der Verhältnismäßgkeitsgrundsatz. Dabei muss jede in die Grundrechte eingreifende staatliche Maßnahme durch einen verfassungsrechtlichen Zweck gerechtfertigt, d.h. geeignet, erforderlich und angemessen sein. (1, S.17)
Urff (ein Autor, der den Schusswaffengebrauch in Großbritannien und Nordirland und der BRD verglichen hat) sieht fünf Zwecke eines Schusswaffengebrauchs gegen Personen regelmäßig für anerkannt: 1. Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben 2. Verhinderung einer unmittelbar bevorstehenden Straftat 3. Anhalten einer Person, die einer Straftat dringend verdächtig ist und sich der Festnahme oder Identitätsfeststellung durch Flucht zu entziehen sucht 4. Fluchtvereitelung einer Person, die sich aufgrund einer richterlichen Entscheidung oder eines dringenden Tatverdachtes in amtlichem Gewahrsam befindet 5. Verhinderung der gewaltsamen Befreiung einer Person aus amtlichem Gewahrsam
Dabei darf der Schusswaffengebrauch nur als letztes Mittel mit dem Ziel der Flucht- oder Angriffsunfähigkeit eingesetzt werden. (5, S.18/19)
Der Schusswaffengebrauch hat verwaltungsrechtlichen Charakter, das bedeutet er ist ein mögliches Mittel des unmittelbaren Zwanges, um durch Einwirkung auf Personen oder Sachen Aufgaben der hoheitlichen Organe zu erfüllen. Da das Polizeirecht eine Ländersache ist, regeln Landesgesetze den polizeilichen Schusswaffengebrauch.
Zum "unmittelbaren Zwang" heisst es beispielsweise im HSOG (Hessisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung):
§58 Androhung unmittelbaren Zwanges
(1) Unmittelbarer Zwang ist vor seiner Anwendung anzudrohen. Von der Androhung kann abgesehen werden, wenn die Umstände dies nicht zulassen, insbesondere wenn die sofortige Anwendung des Zwangsmittels zur Abwehr einer Gefahr notwendig ist. Als Androhung des Schusswaffengebrauchs gilt auch die Abgabe eines Warnschusses. (2) Schusswaffen dürfen nur dann ohne Androhung gebraucht werden, wenn dies zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben erforderlich ist. (3) Gegenüber einer Menschenmenge ist die Anwendung unmittelbaren Zwanges möglichst so rechtzeitig anzudrohen, dass sich Unbeteiligte noch entfernen können. Der Gebrauch von Schusswaffen gegen Personen in einer Menschenmenge ist stets anzudrohen; die Androhung ist vor Gebrauch zu wiederholen. Bei Gebrauch von technischen Sperren und Dienstpferden kann von der Androhung abgesehen werden.
§60 Allgemeine Vorschriften für den Schusswaffengebrauch
(1) Schusswaffen dürfen nur gebraucht werden, wenn andere Maßnahmen des unmittelbaren Zwanges erfolglos angewendet sind oder offensichtlich keinen Erfolg versprechen. Gegen Personen ist ihr Gebrauch nur zulässig, wenn der Zweck nicht durch Schusswaffengebrauch gegen Sachen erreicht werden kann. (2) Schusswaffen dürfen gegen Personen nur gebraucht werden, um angriffs- oder fluchtunfähig zu machen. (3) Gegen Personen, die dem äußeren Eindruck nach noch nicht vierzehn Jahre alt sind, dürfen Schusswaffen nicht gebraucht werden. Dies gilt nicht, wenn der Schusswaffengebrauch das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben ist. (4) Der Schusswaffengebrauch ist unzulässig, wenn für die Polizeivollzugsbeamtin oder den Polizeivollzugsbeamten erkennbar Unbeteiligte mit hoher Wahrscheinlichkeit gefährdet werden. Dies gilt nicht, wenn der Schusswaffengebrauch das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr ist.
Der grundsätzliche Rahmen eines zulässigen Schusswaffengebrauchs seitens der Polizei ist also gesetzlich definiert. Im Sinne von Norbert Elias Theorie lässt sich dieses Gesetz (und auch andere Gesetze) als eine symbolisch fixierte Fremdzwanginstitution beschreiben.
Menschen legen in diesen Gesetzen verbal-symbolisch fest, unter welchen Bedingungen bestimmte Menschengruppen (u.A. Polizeibeamte), bestimmte Arten des Zwanges auf andere Menschen ausüben dürfen. Die Auswirkungen dieser Gesetze auf die Menschen, die nach ihnen leben, haben also einen fremdzwangartigen Charakter.
Soziale Prozesse der (deutschen) Gesellschaft unserer Tage sind in relativ hohem Maße durch Gesetze, durch einen symbolisch beschriebenen und übermittelten Fremdzwang beeinflusst. Diese Symbole sind wissenschaftlich erforschbar. Gesetzestexte eignen sich somit als reales empirisches Material zur soziologischen Erforschung und Darstellung von sozialen Prozessen in Gesellschaften mit einem entwickelten Gewaltmonopol.
Interessant an Gesetzesartikeln wie den oben zitierten sind insbesondere auch ihre Funktionen für die Menschen, die als Polizeibeamte tätig sind, also die Auswirkungen der Zwänge des Gewaltmonopols für die Gewaltmonopolisten selbst.
In dem Verlauf dieses Prozesses können und sollen Polizisten lernen, dass sie, obwohl sie über Waffengewalt verfügen dürfen, dies nur auf bestimmte, kontrollierte Weise tun. Jede andere, oder darüber hinaus gehende Anwendung der Schusswaffe steht unter Strafe und wird entsprechend sanktioniert. Mit der Zeit können solche durch Fremdzwang gesteuerten Verhaltensmuster in den Habitus der Polizeibeamten eingehen; der wiederholte Fremdzwang des Gesetzes kann zunehmend zu einem Teil der Persönlichkeit, zur “zweiten Natur” eines Polizisten werden, und damit auch zur Identität, zum Selbstbild beitragen, das so ein Mensch von sich erfährt.
Die Polizeibeamten sind ein Glied einer spezifischen Figuration, sie haben Kraft ihres Amtes die Möglichkeit, die legislativen, symbolisch beschriebenen Verhaltensnormen in exekutiven Handlungen umzusetzen, und somit auf die Verhaltensformen der Menschen direkt einzuwirken. Sie sind damit diejenigen, die unter gesetzlich bestimmten Einschränkungen speziell das tun dürfen, was gesellschaftlich “verboten” werden soll: Sie dürfen bestimmte Gewalt ausüben, um gewaltmonopolistische Prozesse aufrecht zu halten, also um andere Menschen zu einem gewaltfreien Leben zu bewegen.
Von ihnen wird gleichzeitig die Tätigkeit der Gewaltmonopolisten und die Fähigkeit, friedlich helfende Menschen zu sein, verlangt. Sie sollen also in der Lage sein, gezielt Zwangsmaßnahmen auch unter Zuhilfenahme von physischer Gewalt durchzuführen, aber auch Mitgefühl für andere zu entwickeln und ihre eigenen Aggressionen zu beherrschen.
zurück zum Inhalt nach oben nach unten 5. Regelungen zum Schusswaffeneinsatz : Im Unterschied zum Schusswaffengebrauch, für den es in der BRD allgemein eine detaillierte gesetzliche Regelung als Grundlage gibt, ist der Schusswaffeneinsatz weniger durch Gesetze, sondern mehr durch Erlasse, Verordnungen und Leitfäden geregelt. Die Aufbewahrung und Behandlung von Schusswaffen und Munition, das Führen der Schusswaffe im Dienst und außerhalb des Dienstes ist im Bundesland Hessen z.B. durch Erlass geregelt. Allgemeine Verhaltensregeln und spezielles, situationsangepasstes Einsetzen der Waffe finden sich in der Polizeidienstvorschrift 211 und dem Leitfaden 371. Dies sind nur allgemeine Formulierungen von Empfehlungen, so dass lediglich theoretische Anhaltspunkte für ein korrektes Verhalten gefunden werden können, andererseits aber auch die konkrete Beschreibung von Verboten oder Warnungen. Ein rechtlich und taktisch korrektes Verhalten, dass eine problematische Situation löst, ist nicht direkt ableitbar, sondern nur Verhaltensorientierungen.
Der allgemeine Schusswaffeneinsatz unterliegt also in stärkerem Maße dem persönlichen Ermessen des Polizeibeamten, als dies beim Schusswaffengebrauch der Fall ist. (1, S.23)
Die Grenze zwischen einem Schusswaffeneinsatz und einem Gebrauch der Schusswaffe ist also rein rechtlich gesehen eindeutig, es gibt aber in der Realität Situationen, in denen diese Grenze sehr schnell überschritten wird. Zwar ist der zulässige Schusswaffengebrauch detailliert gesetzlich definiert, wie oben (4.) aufgezeigt wurde, jedoch lassen diese Regelungen noch erheblichen Raum für Auslegungen, und es lassen sich eben nicht alle möglichen Situationen berücksichtigen, in denen Schusswaffen zum Gebrauch kommen könnten.
Beim polizeilichen Schusswaffengebrauch ist, wie ich oben schon einmal erwähnte, der Grundsatz der Verhältnismäßgkeit maßgeblich.
Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit ist jedoch problematisch. Zwar ist die Verhältnismäßigkeit des Gebrauchs einer Waffe in den Dimensionen "Geeignetheit", "Erforderlichkeit" und "Angemessenheit" dieser Maßnahme theoretisch einzuschätzen. In einer konkreten Situation stellt diese Prüfung für einen Polizeibeamten jedoch eine nicht unbedeutende kognitive Aufgabe dar, die zumeist innerhalb kürzester Zeit bewältigt werden muss.
Dabei ist im Verlauf einer Situation diese Prüfung immer wieder vorzunehmen, da sich die Verhältnismäßigkeit verschiedener polizeilicher Maßnahmen ständig mit der Wandlung der Sachlage verändern kann. In einer polizeilichen Einsatzsituation ist von einem Polizisten also gefordert, jederzeit Informationen und Wahrnehmungen zur aktuellen Lage entsprechend der Gesetzeslage, seines Einsatzzieles und vieler anderer Faktoren (siehe 7.) zu interpretieren und resultierende Entscheidungen zu prüfen, und dies oft in sehr kurzer Zeit. Der entstehende Druck entschuldigt jedoch niemals eine "unrichtige" Entscheidung.
zurück zum Inhalt nach oben nach unten 6. "Doppelbinderprozesse" nach Norbert Elias Im Zentrum einer Analyse jedes einzelnen Schusswaffengebrauchs steht also das individuelle Entscheidungsverhalten eines Polizisten, der Verlauf des Entscheidungprozesses, ob und wie er mit der Schusswaffe handelt. In der Analyse so eines Prozessverlaufs stellt sich u.a. auch heraus, ob ein Polizist in der Lage war, z.B. aggressive Verhaltenstendenzen unter Kontrolle zu halten und der Situation nach angemessen zu handeln, oder ob seine Emotionen wie z.B. Angst ihn zu einem unreflektierten Verhalten provozierten. Die Frage ist hier also, ob ein Polizist durch Sozialisationsprozesse, in den Lernprozessen seiner Schießausbildung und durch den Fremdzwang von Gesetzen und Verordnungen ein bestimmtes "Maß an Zivilisiertheit" erreicht hat, so dass er auch in Extremsituationen stets in der Lage ist, seine Affekte und sein Verhalten zu regulieren, um den Umgang mit der Waffe zu kontrollieren.
Nach Norbert Elias lassen sich solche Situationen, in denen ein Mensch unter Druck und Stress gravierende Entscheidungen treffen muss, als Doppelbinderprozesse beschreiben: Das Verhalten eines Menschen in einer bestimmten Situation schwankt, so Elias, auf einer Balance zwischen "Engagement und Distanzierung" 4. Je stärker die Emotionsladung des Gemütes eines Menschen in einer Situation ist, je engagierter dieser Mensch ist, desto stärker ist auch seine Beobachtungsgabe und sein Nachdenken über diese Situation von Affekten gefärbt, und desto größer ist also auch die Wahrscheinlichkeit, dass seine kognitive Beobachtung und das Ergebnis seiner Reflexion weniger realitätsangemessen sein wird. Und je weniger realitätsangemessen er die Situation wahrnimmt und reflektiert, desto stärker werden wiederum die unbewussten Wirkungen seiner emotionalen Reaktionen sein, was wiederum die Chance, sich der realen Situation gegenüber angemessen und distanziert zu verhalten, verringert.
Der Doppelbinder ist also eine Art Rückkopplungsmechanismus, in dem die beteiligten Faktoren sich gegenseitig bedingen und verstärken. |
| Die Fähigkeit, sich von den eigenen Emotionen und Affekten zu distanzieren und weniger emotionsgesteuert über die wahrgenommene Situation nachzudenken (die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung und zu einer stärker kognitiven, formal-logischen Prozesswahrnehmung) ist also nach Elias eine entscheidende Voraussetzung, um Situationen angemessener beurteilen zu können. Die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung nimmt nach Elias mit steigendem Grad der Zivilisierung zu (s.o.: 3.).
Es besteht hier also auch ein wichtiger psychologischer Zusammenhang mit der Fähigkeit von Menschen, zwischenmenschliche Probleme und Konflikte intellektuell auf verbal-symbolischer Ebene zu lösen, anstatt z.B. unreflektiert Aggressionen zu folgen und Streit mit physischer Gewalt zu bearbeiten.
zurück zum Inhalt nach oben nach unten
7. Die reale Situation des Schusswaffeneinsatzes Ein Polizist steht in der Realität vor komplexen Situationen, die die folgenden Eigenschaften aufweisen, welche Entscheidungsprozesse beeinflussen: (1 S.62) 1. wenig strukturierte Probleme 2. unbestimmtes und wechselndes Umfeld 3. sich verschiebende, schlecht definierte und konkurrierende Ziele 4. Rückmeldungen, die über Veränderungen der Situation aufgrund von vorher getroffenen Entscheidungen informieren 5. Zeitdruck 6. hohe Einsätze 7. mehrere Beteiligte und Verteilung der Verantwortung 8. Entscheidungen müssen im Einklang mit Gesetzen, Regeln, Rollen und Normen getroffen werden Es lassen sich fünf Phasen des Schusswaffeneinsatzes bis zum –gebrauch unterscheiden: (1, S. 35) Phase 0 : Der Polizist ist unbewaffnet
Phase 1: Der Polizist trägt seine Waffe im sogenannten "streifenfertigen Zustand", d.h. die Waffe steckt geladen, aber nicht gespannt, in der Tragevorrichtung. Bereits in dieser Phase setzt der Schusswaffeneinsatz ein, denn einerseits bringt das Tragen der Waffe eine gewisse Einstellung des Beamten mit sich, und andererseits wirkt schon das Tragen einer Schusswaffe in verschiedener Weise auf Menschen, mit denen der Waffentragende in Kontakt kommt.
Phase 2:"aufmerksame Sicherungshaltung" : Der Polizist hat die Hand an der Waffe, die sich jedoch noch immer in ihrer Tragevorrichtung befindet. Er ist damit sichtbar bereit, weitere Phasen des Schusswaffeneinsatzes einzuleiten. "Bereit" meint hier jedoch nur eine technisch-motorische Bereitschaft, und schließt nicht unbedingt eine psychische Bereitschaft zur Schussabgabe mit ein. Diese Handlung kann also z.B. auch der Bewältigung der eigenen Angst dienen.
Phase 3:"entschlossene Sicherungshaltung" : Die Schusswaffe befindet sich in der Hand des Polizisten, sie ist jedoch ungerichtet, d.h. der Lauf zeigt nach vorne abwärts, zum Boden. Auch diese Phase beinhaltet nicht unbedingt eine psychische Bereitschaft zum gezielten Schießen. Auch zu dieser Phase existieren keine rechtlichen näheren Beschreibungen oder Bedingungen. Es unterliegt ganz der Entscheidung des Polizeibeamten, wann er diese Phase einnimmt oder wieder verlässt.
Phase 4:"entschlossene Schießhaltung" : Der Polizist zielt mit der Waffe, d.h. die Pistole wird direkt auf das Ziel gerichtet. Dies beinhaltet eine unmittelbare technisch-motorische, aber nicht notgedrungen auch psychologische Bereitschaft zur gezielten Schussabgabe. Die Phase 4 ist keine notwendige Bedingung für den Schusswaffengebrauch. Auch diese Phase ist rechtlich nicht näher beschrieben oder bedingt. Auch hier hat der Beamte die Entscheidung.
Phase 5: die eigentliche Schussabgabe. Hierbei wird jegliche Art von Schussabgabe verstanden, sowohl der gezielte Schuss auf eine Person oder Sache, als auch der Warn- oder Notwehrschuss. Die Phase 5 kann auf drei unterschiedlichen Wegen erreicht werden, direkt von Phase 2 und 3 als "Deutschuss" oder von Phase 4 als gezielter Schuss. Für jede Art von Schussabgabe muss die rechtliche Grundlage gegeben sein.
Wenn dieser Prozess von einer niedrigeren Phase in Richtung Phase 5 verläuft, spricht man von zunehmender Eskalation, in entgegengesetzter Richtung von Deeskalation.
Der Entscheidungsprozess eines Polizisten, zu einer höheren Phase überzugehen. bzw. zu einer vorherigen Phase zurückzugehen, also Schritte in Richtung Eskalation bzw. Deeskalation zu machen, wird von unzähligen internen und externen Faktoren der jeweiligen Situation beeinflusst (1, S.48). In sehr kurzer Zeit sind Polizeibeamte dazu angehalten, die Verhältnismäßigkeit ihrer Handlungen zu reflektieren.
Mögliche externe Faktoren die auf eine polizeiliche Einsatzsituation Einfluss haben können, werden von Clemens Lorei in zwei Gruppen eingeteilt: Handlungseinschränkungen | situative Faktoren | z.B. - Erfolgs- und Leistungsdruck
- rechtliche Beschränkungen
- subjektive Normen
- öffentliches Interesse
- objektiv vorhandene Handlungsalternativen
- angestrebtes Handlungsziel
| z.B. - Helligkeit, Witterung
- Gefährdung
- Ort
- Anzahl der beteiligten Personen
- Zeitdruck
- Deckungs- bzw. Eigensicherungsmöglichkeiten
- Nähe zum Gegenüber
- Stressoren
|
|
|