Home
 Texte
 Fakten

Kontakt
Mail an Felix
PDF
Diesen Text als druckbares PDF-Dokument
downloaden (154 kB)

Norbert Elias:   Über die Natur

Übersetzung aus dem Englischen und Redaktion von Michael Schröter
erschienen in: Merkur, Nr. 448, Juni 1986
.

1.

Die Entwicklung des Wissens hat den Charakter einer relativ autonomen Strähne innerhalb der Menschheitsentwicklung. Sie ist auf vielfältige Weise mit anderen Strähnen verflochten und interdependent, aber niemals auf sie zu reduzieren. Im Zusammenhang mit einem evolutionären Durchbruch, dem einzigartigen Durchbruch zu kortikaler Dominanz, sind die Menschen auf erlerntes Wissen angewiesen, um sich in ihrer Welt zu orientieren. Menschengruppen vom Typ homo sapiens hatten zu jeder Zeit nur dann eine Überlebenschance, wenn die jeweils gegenwärtigen Generationen von den vorangehenden einen Fundus an realitätsgerechtem Wissen erlernten, wie sehr es auch in Phantasiewissen eingebettet war. Philosophen, die darüber nachdenken, ob Erkenntnisse je realitätsgerecht oder, wie man es früher ausdrückte, »wahr« sein können, mögen sich die Frage vorlegen, ob die Menschen, in ihrer völligen Abhängigkeit von erlerntem Wissen als Orientierungsmittel, überhaupt hätten überleben können, wenn sie nicht von ihren Müttern und Vätern immer aufs neue ein Gutteil »wahres«, also wirklichkeitskongruentes Wissen übernommen hätten. Die Antwort auf diese Frage ist Nein. Man kann mit Zuversicht sagen, dass nur diejenigen Menschengruppen überlebten, die einen ausreichenden Fundus an realitätsgerechten Symbolen besaßen. Ohne ihn wären sie nicht einmal in der Lage gewesen, ihre Nahrung zu finden; sie hätten sich nicht vor Tieren und vor anderen Menschengruppen zu schützen vermocht.

Das Problem der »Wahrheit«, der Sachgerechtheit von Erkenntnissen, der Wirklichkeitskongruenz von Symbolen ist stets das gleiche, ob es sich um das Wissen einfacher Stämme von den Heil- und Giftpflanzen, von den Fährten der Hasen und Hirsche handelt oder um das Wissen der Wissenschaftler von der Struktur der Galaxien, von den kleinsten Teilchen der Atome. Descartes, Kant und ihre Nachfolger haben das Problem des menschlichen Wissens auf eine falsche Bahn gelenkt. Sie haben, mit anderen Worten, eine Fehltheorie aufgestellt. Man muss sie erst als solche erkennen, ehe man sie als Entwicklungsschritt wieder zu schätzen vermag. Es geht nicht darum, ob das Wissen im Inneren eines einzelnen Subjekts Objekten in der Außenwelt entspricht, sondern darum, ob soziale Symbole, die der einzelne in seiner Gesellschaft erlernt, Symbole wie »Mutter«, »Pflanze«, »Natur« oder »Ursache«, wirklichkeitsgerecht sind und so den Menschen der Gesellschaft, die diese Symbole gebraucht, eine sichere Orientierung in ihrer Welt ermöglichen.

Die Subjekt-Objekt-Beziehung stellt sich in den Erkenntnistheorien als eine unveränderliche Universalie dar. Die Sachgerechtheit der Symbole aber ist wandelbar. Sie kann größer und geringer werden. Sie kann sogar vollkommen und endgültig sein; und die Sachgerechtheit vieler Symbole für Naturereignisse ist das heute in der Tat. Erst in diesem Jahrhundert ist das Wortsymbol »Sonne« in höchstem Maße wirklichkeitsgerecht geworden. Man weiß, es handelt sich um einen Heliummeiler, der in ein paar Milliarden Jahren ausgebrannt sein wird. Natürlich kann dieses Sachwissen noch verbessert werden; aber im wesentlichen weiß man jetzt, was die Sonne ist.

Gerade weil allerdings die Realitätskongruenz des Symbols »Sonne« in unserer Gegenwart so weit vorgetrieben worden ist, sollte man eigentlich Verständnis dafür haben, dass Menschen auf einer früheren Stufe der Menschheitsentwicklung dieses Wissen noch nicht haben konnten. Man kann leicht einsehen, dass für sie zunächst einmal die Frage im Mittelpunkt der Erfahrung stand, ob es die Sonne gut mit ihnen meine oder nicht. Es ist unter den gegebenen Voraussetzungen völlig begreiflich, dass Menschen sich der Gewalt der Sonne auf Gedeih und Verderb ausgeliefert fühlten und sie deshalb wie ein lebendes Wesen mit sehr großer Macht behandelten, das man durch Bitten und Opfergaben beschwören konnte, das sich aber den Gebeten der Menschen oft genug entzog. Man kann es nur zu gut verstehen, dass sie das Symbol »Sonne« als engagierte Beteiligte verwendeten und nicht wie wir mit einem hohen Maß an Distanzierung im Sinne eines Naturablaufs, der den Menschen nützt oder schadet in totaler Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Schicksal.

Im Verlauf der langen Menschheitsentwicklung machte also der menschliche Wissensschatz bestimmte Veränderungen durch. Eine kurzfristige Perspektive, eine historische Betrachtungsweise mag es so erscheinen lassen, als ob diese Wandlungen unstrukturiert und zufällig seien. Bei einer langfristigen Perspektive, einer Betrachtung unter dem Aspekt der Entwicklung, wird es leichter, die Ordnung und die jeweilige Richtung in der Abfolge der Wandlungen zu erkennen. So hatten Veränderungen in den Orientierungsmitteln, im Wissen der Menschen manchmal die Gestalt eines Fortschritts und manchmal die eines Rückschritts oder auch einer Mischung von beiden Tendenzen, in der die eine oder die andere Tendenz überwog. In einigen Phasen wurde der menschliche Wissensfundus entschieden größer, differenzierter und realistischer; in anderen blieb er mehr oder weniger auf dem gleichen Stand, oder er wurde kleiner in bezug auf seine Realitätskongruenz, wenn auch vielleicht größer in bezug auf seinen Phantasiegehalt. Veränderungen des menschlichen Wissens können hier in Schritten zu erhöhter Distanzierung und dort zu verstärktem Engagement vor sich gehen. (Fußnote 1: Die Bedeutung der Begriffe "Engagement und Distanzierung" für eine Theorie des Wissens wird in dem so betitelten Buch des Autors entfaltet (Frankfurt: Suhrkamp 1983)) Wenn man die menschliche Vergangenheit als Geschichte wahrnimmt, braucht man keine diagnostischen Hilfsmittel in der Form von Synthesebegriffen. Wenn man sie als Entwicklung sieht, kommt man ohne begriffliche Repräsentanten einer hohen Synthese nicht aus.

Die Relation von Engagement und Distanzierung kann als ein solches Mittel zur Diagnose der Ordnung und Richtung des Wandels in der Entwicklung der Menschheit und speziell des menschlichen Wissens dienen. Wenn man diese Entwicklung von ihren früheren zu ihren späteren Stufen hin verfolgt, findet man auf den früheren Stufen vorherrschend Symbole, die ein starkes persönliches Engagement repräsentieren, also durch einen hohen Affekt- und Phantasiegehalt geprägt sind; sie sind unscharf umrissen, auf kurzfristige Ereignisse abgestimmt, häufig nur locker miteinander verknüpft und stellen eine Synthese auf relativ niedriger Ebene dar. Selbst wenn sich die Relation von Engagement und Distanzierung zugunsten der letzteren verschiebt, erweitert sich der Sektor des Wissens, in dem Distanzierung und Wirklichkeitskongruenz dominant sind, im gesamten Wissensbestand einer Gesellschaft nur sehr langsam. Sowie man sich daran gewöhnt, entwicklungsbedingte Unterschiede des Wissens zu sehen, wird es auch einfacher, zwischen dem charakteristischen Wissen einer früheren und einer späteren Stufe zu unterscheiden. (Fußnote 2: Vgl. die Hinweise auf die babylonische und die antike griechische Mathematik als Repräsentanten verschiedener Synthesehöhen oder auf den Gebrauch von Sprichwörtern in weniger differenzierten Gesellschaften, verglichen mit dem von allgemeinen Substantiven in differenzierteren Gesellschaften. In: Norbert Elias, Über die Zeit. Frankfurt: Suhrkamp 1984.) Man gewinnt ein Auge für die Kennzeichen eines Wissensfortschritts oder auch eines Rückschritts. Und man lernt, die Balance von Engagement und Distanzierung zu bestimmen, die ein einzelner Begriff verkörpert.


2.

Man nehme als Beispiel den Begriff »Natur«. Er ist ein Symbol, das eine Synthese auf sehr hoher Ebene repräsentiert. Um damit einen Sinn verbinden zu können, muss man sich bestimmter Aspekte von Ereignissen sehr sicher sein, über die niemand durch individuelle Erfahrung und Reflexion allein ein sicheres Wissen zu erwerben vermag. Zu dieser Art von Wissen gehört die Kenntnis der grundlegenden Gleichförmigkeit aller physikalischen Vorgänge der Welt oder, in kleinerem Maßstab, die Kenntnis der Regelmäßigkeit, mit der sich das Erscheinen und Verschwinden des Mondes vollzieht, oder sogar der Identität von Neu- und Vollmond. Eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für Gewissheit in solchen Dingen ist eine kontinuierliche Weitergabe von Wissen über eine lange Reihe von Generationen hin. Viele Jahrtausende müssen Menschen gebraucht haben, bis es ihnen gelang, von einer Position des Nicht-Wissens aus - also des Fehlens genauer und gut sitzender Symbole außerhalb des Bereiches direkter Überlebenswichtigkeit - nun Symbole auszuarbeiten, die eine solche Fülle sicheren Wissens mit sich tragen, wie es heute bei Begriffen wie »Natur« oder auch wie »Mond«, im Sinne eines Teiles der Natur, der Fall ist.

Das Erleben von Geschehnissen auf den nicht- oder vormenschlichen Ebenen dieser Welt als »Natur« ist heutzutage eine Selbstverständlichkeit. Es ist ein Zubehör des sozialen Habitus der einzelnen Mitglieder vieler, wenn auch beileibe nicht aller zeitgenössischer Gesellschaften. Wo ein realitätsgerechtes Wissen von der Natur, in Verbindung mit einer entsprechenden Kontrolle und Manipulation, ein relativ hohes Niveau erreicht hat, werden die Menschen von klein auf mit einer relativ distanzierten Haltung zu Regen, Blitz und Sonnenschein, zum Wachsen der Nahrungsmittel und vielen anderen Naturvorgängen vertraut. Sie eignen sich in solchen Gesellschaften schon früh im Leben Symbole an - darunter eben auch das der »Natur« -, die ihnen die Vorstellung vermitteln, dass die Natur ein Zusammenhang von großer Ordnung und weitgehend von Menschen kontrollierbar sei. Diese Sicht der »Natur« wird dadurch verstärkt, dass alle anderen Menschen, mit denen man verkehrt, die »Natur« in derselben distanzierten Weise wahrnehmen, das heißt als einen Komplex von Ereignissen, die ihren eigenen Gesetzen folgen und die von Menschen gesteuert werden können, sofern sie diese Gesetze kennen. Auch wenn die »Naturordnung« von Zeit zu Zeit in Erdbeben oder Wirbelstürmen ihre wilde Gewalt offenbart, erleben die Mitglieder von Gesellschaften, in denen die Masse der physikalischen und biologischen Ereignisse als »Natur« wahrgenommen wird, »Natur« im großen und ganzen nur in ihrer domestizierten Form, durch menschliche Kontrolle gezähmt und umgestaltet.

In Gesellschaften dieses Typs wird die Standardauffassung der Natur als einer Gegebenheit, deren bloßer Name Regelmäßigkeit und gute Ordnung symbolisiert, von beinahe jedermann geteilt. Es ist daher nicht überraschend, wenn man unter ihren Angehörigen die fast allgemein verbreitete Überzeugung findet, dass es leicht sei, die Welt als »Natur« zu erleben, dass jeder es könne, ohne Lernen und unabhängig von allen anderen Menschen. Es erscheint, mit einem Wort, schlichtweg als »vernünftig«, Sterne und Berge, Erdbeben, Apfelbäume und Rosen ebenso wie Fische und Fliegen und eine Unzahl anderer Dinge, die allesamt völlig verschieden voneinander sind, unter einem vereinigenden Oberbegriff zusammenzufassen und entsprechend wahrzunehmen - als »Natur«. Jeder vernunftbegabte Mensch, so scheint es, kann unschwer und im Handumdrehen den einheitlichen Charakter dieser großen Fülle verschiedenartiger Objekte erkennen, einfach aufgrund einer angeborenen Verstandeskraft oder seiner eigenen Sinneserfahrungen. Ein Mehltau des Vergessens, eine kollektive Verdrängung versperrt den Blick für die lange Wissensentwicklung, die nötig war, bevor Menschen die Einheit in der Vielfalt der Dinge sehen und ihrer sicher werden konnten und bevor sie einen übergreifenden Begriff als deren Symbol auszubilden vermochten.

Die heute Lebenden besitzen, wie man hier sehen kann, ein außerordentlich weitgespanntes sachgerechtes Wissen, zum Beispiel von der Natur, und wissen es nicht einmal. Der Horror des Nicht-Wissens (den die Menschen früherer Zeiten durch Phantasiegebilde aus ihrem Bewusstsein auszuschließen versuchten und nie ganz ausschlossen) ist ihnen fremd.


3.

Es wäre nicht allzu schwierig, die langfristige Entwicklung des Begriffs »Natur« oder seiner Äquivalente bis zum gegenwärtigen Niveau der Distanzierung und Wirklichkeitskongruenz nachzuzeichnen. Aber das ist eine Aufgabe, die noch vor uns liegt. Soweit man sehen kann, tauchte ein entsprechender Begriff, physis - dessen Abkömmlinge wie »Physik« oder »Physiologie« in vielen heutigen Sprachen noch weiterleben -, erstmals im antiken Griechenland auf, als ein spezifisches Produkt des ersten großen Säkularisierungsschubs. Sein römisches Pendant, das lateinische natura, dem man in einer weithin säkularen Form zum Beispiel noch in Lukrez' Gedicht De rerum natura begegnet, wurde im Mittelalter, einer neuen Phase des von Priestern beherrschten Wissens, als ein minderwertiger Teil von Gottes Schöpfung umdefiniert. Dann entwickelte sich der Begriff während des zweiten großen Säkularisierungsschubs der letzten circa 500 Jahre in engem Zusammenhang mit dem Aufstieg der Naturwissenschaften erneut in die Richtung größerer Sachgerechtheit.

Der Naturbegriff wurde so auf der einen Seite das oberste Symbol für die Einheit der Ordnung, die alle möglichen Gegenstände der Naturwissenschaften miteinander verbindet. In diesem Sinne drückte er eine hohe Stufe der Distanzierung und Realitätskongruenz aus. Auf der anderen Seite aber übernahm er - oder behielt er -, wie es schon seine Äquivalente in der Antike getan hatten, einige der Funktionen eines Symbols, das eine Antwort auf ganz persönliche Wünsche und Bedürfnisse der Menschen bot. Er blieb also auch das Symbol eines affektiven Engagements. Als Repräsentant einer hohen Distanzierung war der Naturbegriff das klar erkennbare Symbol einer unpersönlichen Ordnung, die dem Schicksal der Menschen völlig indifferent gegenübersteht. Zugleich diente er als eine Antwort auf bestimmte Gefühlsbedürfnisse der Menschen und damit als Repräsentant ihres Engagements.

Wenn man den Begriff der Natur auf seine Balance von Engagement und Distanzierung hin untersucht, kann man also gewissen Zweideutigkeiten in seinem Gebrauch mit größerem Verständnis nähertreten. Man stößt hier auf eine Eigentümlichkeit des zweiten Säkularisierungsschubs, die sich, vielleicht in einer etwas gemilderten Form, auch im ersten, dem antiken Schub beobachten lässt. Der begriffliche Repräsentant eines blinden und ziellosen Geschehenszusammenhangs kann in der menschlichen Vorstellung zugleich eine Macht symbolisieren, deren Wirken den Wünschen, Bedürfnissen oder Idealen der Gruppen, die den Begriff verwenden, auf magische Weise entgegenkommt.

Die doppelte Funktion des Naturbegriffs hatte Vorläufer in der Antike. Unter den Gelehrten des alten Griechenland begegnet man einer fast beispiellosen Fähigkeit zur Ausarbeitung neuer und scharf definierter Begriffssymbole auf einem hohen Syntheseniveau, die mehr auf Tatsachen als auf Gefühle bezogen waren und die wie die Stücke eines Puzzlespiels, die Steinchen eines Mosaiks, präzise zueinander passten. So erscheint das griechische Wort für Natur wohl zum ersten Mal klar und deutlich als Symbol einer Ordnung, die etwas anderes ist als die Ordnung des sozialen Lebens der Menschen, wie sie in menschengeschaffenen Gesetzen ihren Ausdruck findet. Physis wird gegen nomos gestellt und als das Reich der Atome und Elementarsubstanzen wie Feuer, Wasser, Luft und Erde aufgefasst. Gleichzeitig aber wird die Natur auch als ein Symbol der Unsterblichkeit und der unendlichen Schöpferkraft angesehen. Die Götter Homers wurden bis zu einem gewissen Grade ersetzt durch das, was Euripides die alterslose Ordnung der unsterblichen Natur nannte. Stoische Philosophen lehrten die Menschen, gemäß der Natur zu leben. Und Lukrez begann seine große poetische Darstellung der epikureischen Philosophie mit einem Gebet an die Schöpferkraft der Natur, personifiziert als Venus.

In jüngerer Zeit dienten dann die ewigen Naturgesetze den Menschen wieder und wieder als symbolisches Antidot gegen ihre eigene Vergänglichkeit. Kants Ausspruch von den ewigen Gesetzen des Himmels über uns und dem ewigen Moralgesetz in uns ist ein bekanntes Beispiel.

Es gibt noch viele neuere Beispiele für diese Mischung von Realitätskongruenz und Phantasie, von Distanzierung und Engagement in der menschlichen Wahrnehmung der Natur. In Gesellschaften, die sich nicht zuletzt durch die fortschreitende Faktenarbeit der Naturwissenschaften stetig transformierten, blieb die magisch-mythische Naturauffassung lebendig und stark. Sie macht sich mit besonderem Nachdruck im späteren 20. Jahrhundert bemerkbar, wo viele Menschen sie als ein Refugium, ein Heilmittel oder einfach als ein symbolisches Gegenbild benutzen, mit dessen Hilfe man dem Elend der rapide sich wandelnden sozialen Welt Paroli bieten oder vielleicht auch entrinnen kann. In dieser Situation ist man leicht geneigt, das realistischere und oft ziemlich düstere Bild der Natur zu vernachlässigen, das aus der tatsachenbezogenen Arbeit der verschiedenen Naturwissenschaften zutage tritt, von der physikalischen Kosmologie bis hin zur Krebsforschung und der Untersuchung menschlicher Geisteskrankheiten. Das bloße Wort »Natur« wird weithin mit Gesundheit und Zuträglichkeit assoziiert. Wenn man sagt, dass etwas »natürlich« sei, ist dabei mitgemeint, dass es gut für die Menschen sei.


4.

Man muss viel übersehen, um das glauben zu können; und die Leichtigkeit, mit der es oft genug übersehen wird, verrät die Stärke des Bedürfnisses, das hinter dem Vergessen steckt. Um an die Güte der Natur zu glauben, muss man die Schrecken der Nahrungsketten vergessen, in denen sich die listigeren und kräftigeren Tiere von den weniger listigen und kräftigen ernähren, und die Todesangst der Gejagten auf der ganzen Welt. Man muss das Gift der Schlangen und Pilze vergessen und fleischfressende Pflanzen, das ständige Fressen und Gefressenwerden in der Natur. Man muss auch die Qualen all derer vergessen, die an Krebs oder an einer der anderen schleichenden Krankheiten sterben, von denen Lebewesen - Tiere nicht weniger als Menschen - betroffen werden können. Sie alle leiden, verfallen und desintegrieren, ohne jede eigene Schuld - ein »natürlicher« Tod, wie wir sagen.

Die Natur ist voller Wollust und Leiden. In ihrem blinden Entwicklungsgang ist sie auf tausenderlei Kniffe gestoßen, wie in dem gnadenlosen Überlebenskampf aller Lebewesen diese oder jene Art vor anderen einen Vorteil gewinnen kann. Tatsächlich gibt es so etwas wie die »Natur« gar nicht. Es gibt nur diese Menge von Ereignissen, große Massen unorganisierter Materie, wo Zufall und Notwendigkeit nicht zu unterscheiden sind, und die vielgestaltigen Vertreter zahlreicher Integrationsebenen, die leben, zerfallen und miteinander kämpfen.

Aus diesem Kampf sind die Menschen hervorgegangen, mit Fähigkeiten, die es ihnen ermöglicht haben, die meisten ihrer Feinde und Rivalen auszurotten oder zu bezwingen und den größten Teil der Erde nach ihren eigenen Bedürfnissen umzuformen. Zu den spezifisch menschlichen Fähigkeiten gehört auch die zur Kommunikation mittels unendlich wandelbarer Symbole, die gespeichert werden und die Wissen von einer Generation zur anderen transportieren können. Sie ist vielleicht diejenige Eigentümlichkeit der Gattung Mensch, die am direktesten dazu beigetragen hat, dass die Menschen zu Herren über viele andere Lebewesen und weite Teile der Erde geworden sind.

Noch haben die Menschen nicht ganz begriffen, welche Verantwortung mit dieser Situation unausweichlich verbunden ist. Nur sie verfügen über eine eigene Welt in der Form von menschengeschaffenen Symbolen, die Wissen verkörpern, das unter Umständen wachsen, das differenzierter und realitätsgerechter werden kann und das sie so in die Lage versetzt hat, die Herrschaft über die Erde zu erlangen. Es liegt jetzt in ihrer Hand, ob sie die Erde, ihre Mitlebewesen und die Menschheit selbst zur Blüte bringen oder ob sie alles zerstören und in seinen stummen und blinden Ablauf zurückfallen lassen. Aber sie scheinen noch nicht zu sehen, dass mittlerweile die Menschheit gegenüber dem Rest der Natur am Zuge ist. Einige von ihnen machen aus der Natur einen Gott. Lassen wir sie ihren Gang gehen, sagen sie, das wird für die Menschheit das Beste sein. Aber die »Natur« ist eine Metapher; sie ist nur eines der vielen Symbole, auf die Menschen die Wunschphantasien projizieren können, dass sie von einer Elternfigur, die den rechten Weg weiß, an die Hand genommen und zu Gesundheit und Wohlergehen hingeführt werden. Die Schwierigkeit ist, dass niemand als die Menschen selbst eine Entscheidung treffen und niemand als sie selbst den Weg wissen kann.

In diesem Licht tritt vielleicht die Relation von Engagement und Distanzierung, die den heutigen Naturbegriff kennzeichnet, etwas deutlicher hervor. Es gibt die tatsachenbezogene Sicht der Natur, das Resultat der Forschungsarbeit vieler Generationen von Wissenschaftlern. Sie hat uns unter anderem ein klareres Bild als je zuvor von dem ziellosen, mechanischen Ablauf der physikalischen Ereignisse verschafft, und besonders von dem monumentalen, stummen Geschehen des physikalischen Universums mit seinen zahllosen Gas- und Staubwolken, seinen wachsenden und vergehenden Sonnensternen, seinen Weißen Zwergen und Schwarzen Löchern. Forscher haben begonnen, die Mechanismen der biologischen Vererbung, der Übertragung lebender Strukturen von einer Generation auf die nächste zu enthüllen, und sie werden vielleicht auch noch die Erklärung für Krankheiten wie Krebs oder für den Verfallsprozess des Alterns entdecken, die allesamt Naturprozesse sind.

Wenn man es mit einiger Distanzierung betrachtet, kann man leicht erkennen, dass die Natur weder gut ist noch schlecht, weder wohlwollend noch böswillig gegenüber den Menschen, sondern nur völlig indifferent. Von allen Manifestationen der Natur besitzen lediglich die Menschen die Fähigkeit, den ziellosen Fortgang des Naturgeschehens so zu beeinflussen, dass er für sie selbst erfreulicher und nutzbringender wird. Sie können auch das Gegenteil tun; sie können Naturereignisse in eine Richtung steuern, die zu Massenvernichtung und großem Leid für Menschen führt.

Das Seltsame und gewiss auch Nachdenkenswerte ist, dass die Nützlichkeit oder Schönheit, die der menschlichen Kontrolle und Transformation von Naturereignissen zu danken ist, oft als das Werk der Natur gepriesen wird, während die schlechten Folgen oder die Zerstörung von Schönheit oft allein als Menschenwerk erscheinen. Was man hier antrifft, ist ein Muster der Selbstwahrnehmung von Menschen, das gleichsam so alt ist wie Adam und Eva, für das sich jedenfalls viele andere Beispiele in Vergangenheit und Gegenwart finden lassen. Die Natur, so hat man den Eindruck, ist immer freundlich, und nur der Mensch ist böse.

Es scheint eine wiederkehrende und bisher noch unerklärte Tendenz zu geben, den menschlichen Beitrag zur Entwicklung der Menschheit im Vergleich zu dem Anteil imaginärer Figuren, von denen die »Natur« eine sein kann, herunterzuspielen. Zweifellos können Menschen irren und völlig sinnloses Unheil über einander bringen. Aber es wird keine Hilfe kommen, wenn man deshalb von Menschen zu übermenschlichen Instanzen flieht. Es ist niemand anders da. Die Menschen müssen ihr Haus selbst bestellen. Sie können der Verantwortung und dem Zwang, den diese Aufgabe jedem einzelnen auferlegt, nicht entgehen. Was die Natur anbelangt, so können ihre ziellosen Prozesse von Menschen in einer Weise benutzt werden, die anderen hilft oder schadet. In Reaktion auf den schädlichen Gebrauch von Naturprozessen durch manche Menschengruppen haben andere den alten Mythos von der essentiellen Güte der Natur wiederbelebt. Sie verwenden den Naturbegriff so, als ob er eine allzeit gütige und wohltätige Muttergöttin bezeichne. Das bloße Wort »Natur« wird auf diese Weise zu einem Lobwort. Dass man Produkten das Etikett »natürlich« aufklebt, scheint per se ihren Anspruch zu rechtfertigen, dass sie gesund seien. Eine Nachprüfung ist nicht erforderlich.

Die Tatsache, dass der Begriff der Natur - in unserer eigenen Zeit wie in der Vergangenheit - so umstandslos Phantasien von einer Welt der Güte und der reinen Wohltaten auf sich zu ziehen vermag, ist vielleicht ein wenig erstaunlich, wenn man sich daran erinnert, dass die »Natur« die imaginäre Mutter all derer ist, die in einem unablässigen Überlebenskampf töten oder getötet und gefressen werden. Man erinnert sich auch daran, dass die »Natur« eine Quelle von Leben und Tod, von Krankheit wie von Gesundheit und Freude ist. Es kann als ein Zeichen für die Stärke und Intensität der menschlichen Sehnsucht nach Hilfe in den Ängsten und Unsicherheiten ihres Lebens genommen werden, dass sie die »Natur«, die zumindest teilweise wie die Büchse der Pandora voller Übel ist, in der Vorstellung der Menschen so leicht in ein Füllhorn des Guten verwandeln kann.


5.

Die selektive Verwendung des Wortes »Natur« als Symbol der Zuträglichkeit und Gesundheit, die Aura positiver Gefühle, die es umgibt, haben eine fast paradigmatische Bedeutung, über die Idealisierung der Natur selbst hinaus. Man kann daran ablesen, wie die Menschen wieder und wieder außerhalb ihrer Welt nach Heilmitteln gegen ihre Nöte und Leiden suchen, wie sie sich nach dem Schutz einer außermenschlichen Macht gegen ihre nie endenden Unsicherheiten sehnen. Im hier besprochenen Fall heften sich Hoffnungen dieser Art an das Symbol der Natur, in anderen an Geistersymbole. Es ist, als ob die Last der Eigenverantwortung, der Notwendigkeit, sich und einander selbst so weit wie möglich vor den Gefahren des Lebens zu schützen, für die Menschen zu schwer wäre. Sie verhalten sich so, als ob sie sich nie auf Vorschriften und Zwänge verlassen könnten, die sie selbst einander auferlegen, und immer die einer nicht-menschlichen Gewalt bräuchten, um die Bedrohungen ihres fragilen Daseins zu mindern. Und doch sind die Phantasiezwänge, die außermenschlichen Instanzen zugeschrieben werden, ob Symbolen wie der »Natur« oder Symbolen von Geistern, immer menschliche Vorschriften und Zwänge in Verkleidung. Eine Unterstützung und Verstärkung ihres unzuverlässigen Selbstzwanges können Menschen realistischerweise nur von innermenschlichen, also von sozialen Instanzen oder, mit anderen Worten, von Menschen erwarten.

Alte Legenden wie die von der Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies, aber auch andere aus unserer eigenen Zeit, zeigen immer wieder das bereits erwähnte Muster, das sich im gegenwärtigen Mythos der »Natur« findet: Was Menschen als gut für sich bewerten, wird außermenschlichen Instanzen zugerechnet, und nur was sie als schlecht ansehen, gilt als das Werk der Menschen selbst. Zweifellos können Menschen als Gruppen und Individuen sich selbst und einander der schlimmste Feind sein. Sie fügen einander große Leiden und Schmerzen zu, häufig genug im Namen ihrer Götter oder luftiger Ideale. Sie misstrauen einander in hohem Maße, und allzu oft ist ihr Misstrauen gerechtfertigt. Voneinander im Stich gelassen und von Gefahren umringt, suchen sie Zuflucht bei Phantasiegestalten und setzen ihr Vertrauen in sie. Und während diese Gestalten tatsächlich keinerlei Hilfe bieten, kann man jedenfalls davon träumen, dass sie es tun. Bei Geschöpfen der Phantasie ist man, trotz oder wegen ihres illusionären Charakters, vor Enttäuschungen sicher.

Obwohl aber die Menschen in ihrem Umgang miteinander oft unzuverlässig und boshaft sind, gibt es doch auch viel Freundlichkeit, die sie einander schenken. Es gibt Vertrauen, das nie gebrochen wird. Wenn man eine gewisse Distanzierung aufbringt, ist unschwer zu sehen, dass die Menschheit auf ihrem ungeplanten Weg sogar in bezug auf die Humanisierung des sozialen Zusammenlebens viel erreicht hat und noch mehr erreichen kann; denn sie befindet sich ganz ohne Zweifel immer noch in einer Frühphase ihrer Entwicklung.

Einige ihrer Mitglieder beginnen soeben, sich dieses Entwicklungspotentials bewusst zu werden, ohne jedoch bereits voll zu begreifen, dass solche Kräfte als Gegengewicht bestimmte Zwänge erfordern. Auf lange Sicht wird vielleicht deutlicher werden, dass in dieser Welt keine Zuverlässigkeit, keine Güte und Zuneigung, keine Liebe und keine Hilfe zu haben ist außer der, die von Menschen zu Menschen geht. Viel bleibt noch zu tun, bevor mehr Menschen als heute diese Feststellung akzeptieren, und zwar als das akzeptieren können, was sie ist, als ein Stück Tatsachenwissen, und bevor sie ihr Handeln darauf einzurichten vermögen.

Bis dahin werden nicht wenige fortfahren, ihr großes Bedürfnis nach einem Heilmittel gegen die Unsicherheiten, die Not und Vergänglichkeit ihres Lebens auf Symbole zu projizieren, die sie selbst geschaffen haben. Sie werden weiter ihr Vertrauen in sie setzen und sie in ihrer Vorstellung mit der Fähigkeit ausstatten, all diesen Bedürfnissen abzuhelfen, denen, soweit eine Abhilfe überhaupt möglich ist, nur Menschen selbst abhelfen können.

In einer milden Form hat, wie gesagt, der Begriff der »Natur« das Gepräge eines solchen Symbols angenommen. Als ein Bezugspunkt der Gefühlseinstellungen von Menschen kann der Ausdruck »Natur« in ihrem Reden und Denken gebraucht werden, als ob er eine übermenschliche Person bezeichne. Während so auf der einen Seite die sich beschleunigenden Fortschritte der Naturwissenschaften ein Bild der »Natur« hervorgebracht haben, das realitätsgerechter, distanzierter und weniger durch menschliche Wünsche bestimmt ist als je zuvor, erfüllt auf der anderen Seite der Begriff der Natur weiterhin eine Vielfalt von emotionalen Bedürfnissen. Die Natur als Symbol der Ewigkeit oder die Natur als Spenderin ausschließlich gesunder Nahrungsmittel sind Beispiele für die engagierteren Sektoren im Spektrum der Bedeutungen, die der Ausdruck »Natur« an sich trägt.


6.

Man begegnet in unserer Zeit einer starken Bereitschaft, den Begriff der »Natur« mit einem entschieden höheren Wert zu verbinden als Begriffe, die sich auf die Menschenwelt beziehen, wie etwa »Gesellschaft« oder »Kultur«. Den nicht-menschlichen Ebenen der Natur wird, mit anderen Worten, ein höherer Wert beigemessen als den menschlichen Ebenen. Das ist also einer der vielen Fälle, in denen sich Menschen, auf der Suche nach einer Zuflucht vor den Gefahren und Unsicherheiten ihres sozialen Lebens, an ein selbstgeschaffenes Symbol klammern, das sie in ihrer Vorstellung mit der Macht begaben, ihnen in ihrer Not zu helfen.

Wie andere Begriffe dieses Typs ist der Naturbegriff, mit seinen starken reifizierenden und personifizierenden Tendenzen, irreführend. Er stellt ein Gewebe von Prozessen, das sich in einem ständigen Wandel befindet, auf einem sehr hohen Syntheseniveau so dar, als ob es sich um eine unveränderliche und ewig ruhende Gegebenheit handle. Nach einer in früheren Zeiten recht verbreiteten Überzeugung verlangt Begriffsbildung als solche eine Reduktion des Wandels auf Unwandelbarkeit. Das ist eine irrige Annahme - Ausfluss eines Wunschtraumes von Philosophen, die am Grunde all der beobachtbaren Veränderungen, und sei es als ein Prinzip oder Gesetz, etwas Festes, Unveränderliches und Ewiges zu entdecken suchen. Tatsächlich haben menschengeschaffene Symbole keine derartigen eingebauten Grenzen. Sie sind durchaus imstande, alle möglichen Bedeutungen zum Ausdruck zu bringen, die von den Gruppen ihrer menschlichen Benutzer entwickelt und verstanden werden können.

Man kann das sofort sehen, wenn man sich daran erinnert, dass das, was wir als »Natur« bezeichnen, in der Substanz identisch ist mit dem »sich entwickelnden Weltall«, von dem gegenwärtige Kosmologen reden. Beide Begriffe beziehen sich auf das ganze Universum. Beide betonen seine physikalischen im Vergleich zu seinen menschlichen Ebenen. »Natur« ist ein Begriff eines älteren Typs. Er spiegelt noch in erheblichem Maße die jahrhundertealte Tendenz wider, Begriffe eines sehr hohen Syntheseniveaus so zu bilden, dass Prozesse symbolisch auf einen statischen Zustand reduziert werden. Der Begriff des sich entwickelnden Weltalls bezieht sich auf dasselbe Objekt ohne diese Reduktion. Wenn man von der »Natur« spricht, scheint man ein unwandelbares Ding oder eine ruhende Person zu meinen. Wenn man von dem sich entwickelnden Weltall spricht, gebraucht man ein Symbol, das eindeutig den Charakter des Universums als Prozess mit einer klaren Ordnung des Wandels, einer bestimmten Phasenabfolge repräsentiert.

Die Relation von Engagement und Distanzierung ist in den bei den Fällen verschieden. Auch wenn der Begriff der Natur für die Objekte der Natur und vor allem der physikalischen Wissenschaften gebraucht werden und insoweit eine recht hohe Ebene der Distanzierung ausdrücken kann, hat er doch, wie gezeigt, nicht selten auch massive metaphysische Konnotationen. Seine Bedeutung kann mehr durch die Bedürfnisse der Personen bestimmt sein, die ihn verwenden, als durch die Tatsachen, auf die er verweist. Begriffe wie der des sich entwickelnden Weltalls repräsentieren ein höheres Distanzierungsniveau. Sie eignen sich weniger leicht als der Begriff »Natur« zur Kommunikation persönlicher Gefühle. Zugleich sind sie realitätsgerechter. Es ist ganz üblich und in der Tat unumgänglich, überprüfbare Modelle eines sich entwickelnden Weltalls auszuarbeiten. Ein überprüfbares Modell der »Natur« lässt sich schwer vorstellen.

(Fußnote 3: Schwer vorstellbar ist im übrigen auch - alle sonstigen Wandlungen ungeachtet, die das kosmologische Modell unseres Weltalls noch durchmachen wird -, dass man auf lange Sicht die heute oft vertretene These von einem absoluten Anfang des Universums wird aufrechterhalten können. Sie besagt nichts weiter, als dass man aufhört, Fragen zu stellen. Wie immer es im einzelnen aussehen mag, das kosmologische Modell wird aller Wahrscheinlichkeit nach das eines anfanglosen, sich selbst perpetuierenden Prozesses sein. In einer allgemeinen Form scheint dies bereits in der Antike von manchen Gelehrtengruppen recht deutlich erkannt worden zu sein. So schreibt Lukrez in seinem Gedicht über die Natur des Weltalls, das den Römern die Grundlage der Lehre Epikurs nahebringen sollte: "Du wirst selber, zermürbt vom schreckenverkündenden Worte / unserer Seher, von uns zu Zeiten dich lossagen wollen... Diesen Schrecken nun, dies Dunkel der Seele muss füglich / nicht der Sonnen Strahl noch das helle Gewaffen des Tages / schlagen entzwei, vielmehr Naturbetrachtung und Lehre. / Ihr Beginn aber wird von da den Ausgang uns nehmen, / dass kein Ding aus nichts entsteht auf göttliche Weise" (zitiert nach: Titus Lucretius Carus, De rerum natura / Welt aus Atomen. Zürich: Artemis 1956))


7.

Aber das ist noch nicht alles, was über das Mischungsverhältnis von Engagement und Distanzierung im Naturbegriff höher entwickelter Gesellschaften gesagt werden muss. Wenn engagierte Bedeutungen in die kognitiven Funktionen eines Begriffs eindringen, sind sie zumeist fehl am Platze. Der Begriff »Natur« jedoch kann auch andere als rein kognitive Funktionen haben. Ein Bauer mag einen Hagelschlag oder einen Heuschreckenschwarm als Naturkatastrophe erleben. Stadtbewohnern andererseits kann »Natur« als ein Symbol für ländliche Gegenden dienen. Dort können sie bewundern, was einige Menschengruppen in den letzten circa 500 Jahren als die Schönheit der Landschaft wahrzunehmen gelernt haben. Oder sie pflanzen, näher bei sich zu Hause, Schneeglöckchen und Narzissen, Magnolien und Rhododendren, Lilien und Rosen an, und auch hier bewundern sie dann die Schönheit der »Natur«. Aber was sie da bewundern, ist zugleich das Werk von Menschen, ist die durch menschliche Erfindungskraft gezähmte und transformierte »Natur«, also mit einem Wort die Kultur der Natur. Die Lilien und Rosen sind von Menschen zu ihrer Freude gezüchtet worden. In vielen Ländern gibt es keinen einzigen Fleck mehr, der nicht von Menschenhand umgestaltet wurde.

Die Kultur der Natur
Die Kultur der Natur

Natur im Rohzustand, mit Zähnen und Klauen, kann sehr unterschiedliche Gefühle auslösen. Die Eiswüsten auf dem Kontinent um den Südpol mögen grandios in ihrer Einsamkeit wirken. Eine Löwin, die sich umsonst zur Jagd nach einer entfernten und bereits in voller Flucht befindlichen Zebraherde anschickt, mag herrlich anzusehen sein, auch wenn sie ohne Nahrung zu ihren Jungen zurückkehrt. Man weiß nicht, wen man mehr bedauern soll, die hungrige Löwin mit ihren um ihre Mahlzeit betrogenen Jungen oder die gejagten Zebras, die beim Anblick oder Geruch des noch entfernten Raubtiers um ihr Leben zu laufen beginnen. Die Naturliebhaber, die den Frieden ländlicher Gegenden dort genießen, wo ihre Vorväter mitgeholfen haben, alle für Menschen gefährlichen Tiere wie Wölfe, Bären und Wildkatzen auszurotten, tun heute ein gutes Werk, wie reuige Sünder, indem sie anderswo vom Aussterben bedrohte Tierarten schützen helfen. Vielleicht sollte man auf der gegenwärtigen Stufe der Sensibilität nicht die Natur im Rohzustand vergessen - die Tiere, die töten, um selbst zu leben, und die anderen, schnellfüßigen, die ihnen zu entkommen suchen. Was man heute oft als den Frieden und die Schönheit der Natur genießt, ist weithin menschengeschaffen. Es ist eine selektiv von Menschen kultivierte und zivilisierte Natur, die wir bewundern.


8.

Bisher ging es vornehmlich um die Problematik einer tief engagierten Einstellung zur Natur, sei es in kognitivem Kontext, sei es in der Form ihrer Vergöttlichung. Einige Worte verdient nun noch die Frage, wieweit ein engagiertes Interesse an der »Natur«, an ihrer Schönheit, an den Erquickungen und Freuden, die sie gewährt, im menschlichen Leben seinen Platz hat. Ganz gewiss ist nichts berechtigter und sogar notwendiger als ein solches Gefühlsinteresse von Menschen an der gegenwärtigen und zukünftigen Entwicklung der »Natur« auf dieser Erde und über sie hinaus - kurz, an der »Umwelt«, wie sie heute oft genannt wird. Nichts ist berechtigter als die Besorgnis, dass diese Freuden, dass die Gesundheit der Menschen selbst durch eine Schädigung der begrifflich als »Umwelt« verkleideten Natur zerstört werden. Diejenigen aber, die in vorderster Front an dieser Aufgabe engagiert sind, stützen sich dabei vielfach auf eine bemerkenswert einseitige und romantisch gefärbte Ideologie. Halten wir deshalb noch einmal fest: Die Menschen - die einzigen Naturgeschöpfe, die wissen - tragen die volle Verantwortung und dann auch die Sorgepflicht für das, was heute die »Umwelt« heißt, also im wesentlichen für die nicht- oder vormenschlichen Ebenen der Natur im Raum dieser Erde und jenseits seiner, so weit sie eben kommen. Er ist ihre Heimstätte. Er ist die Welt, zu deren Herren sie sich gemacht haben. Da ist niemand, der ihnen diese Verantwortung abnehmen kann. Nur Menschen können Verantwortung übernehmen. Denn die nicht-menschliche Natur ist ein unwissender Prozess, der keine Verantwortung für sich selbst, für die Umwelt oder für irgend etwas anderes tragen kann.

Allerdings sind die Menschen sich noch nicht einmal der Verantwortung bewusst, die sie für sich selbst, für die Menschheit tragen. Es ist nützlich, um beides, um die Selbstverantwortung und die Verantwortung für die nichtmenschliche Welt, zu kämpfen. Man kann nicht gut Verantwortung für die Umwelt ohne Verantwortung für die von ihr »Umgebenen« übernehmen. Es ist, anders ausgedrückt, eine Selbsttäuschung, zu glauben, dass man wirksame Maßnahmen zum Schutz der nicht-menschlichen Natur auf diesem Planeten ergreifen könne, ohne gleichzeitig etwas für den Schutz und das Wohlergehen der Menschheit in Gegenwart und Zukunft zu tun. Die Situation der »Natur« auf dieser Erde hängt in letzter Instanz immer von der Situation der Menschheit und besonders von ihren Machtverhältnissen ab. Das Schicksal der Umwelt und das Schicksal dessen, was von ihr »umgeben« wird, also des globalen Netzwerks der Staaten, sind untrennbar miteinander verflochten. Man kann sicherlich die »Natur« nicht »retten«, ohne sich um die Situation der Menschheit zu kümmern, die eine solche »Rettung« nötig gemacht hat.

Tatsächlich ist die Neigung, Natur und Menschheit voneinander zu trennen, die eine ohne die andere zu sehen, ganz illusorisch. Denn was wir auf unserer Erde »Natur« nennen, ist - wie erwähnt - in hohem Maße von Menschen umgestaltete, domestizierte oder zivilisierte Natur, die im Fortgang der Zeit zwangsläufig noch weiter umgestaltet und menschlicher Kontrolle unterworfen werden wird. Das noch zu lösende Problem ist freilich, welche Form und Richtung diese Umgestaltung und Kontrolle in Zukunft nehmen soll - zum Wohle beider, der Natur und der Menschen.


Übersetzung aus dem Englischen und Redaktion von Michael Schröter

Merkur, Nr. 448, Juni 1986

PDF
Diesen Text
finden Sie
hier als druckbares PDF.

     nach oben

http://www.feliz.de/html/elias_natur.htm