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Universität Hannover                          Sommersemester 2003
Institut für Psychologie und Soziologie in den
Erziehungswissenschaften

Seminar:   Norbert Elias zum Verhältnis von "Wir" und "Ich" in modernen Gesellschaften
Tutoren: Ines Bammann, Christoph Hellmann, Ann-Katrin Schwabe, Felix Tietje

Readertext 1:

Norbert Elias: Die Gesellschaft der Individuen
I: Die Gesellschaft der Individuen (1939),
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996 , S. 39 - 48
.

Kapitel 2

Halb bewußt, halb unbewußt tragen bis heute die meisten Menschen einen eigentümlichen Schöpfungsmythos mit sich: Sie stellen sich vor, daß am "Anfang" zunächst ein einzelner Mensch in die Welt trat und daß sich andere Menschen erst nachträglich zu ihm gesellten. So steht es bereits in der Bibel. Aber Nachklänge dieser Bewußtseinsform zeigen sich heute auch in mancherlei anderen Fassungen. Säkularisiert tritt der alte Adam von neuem in Erscheinung, wenn man etwa von "dem Urmenschen" oder "dem Urvater" spricht. Es sieht so aus, als ob den erwachsenen Menschen beim Nachdenken über ihren Ursprung die Tatsache, daß sie selbst, daß alle erwachsenen Menschen als kleine Kinder zur Welt kamen, unwillkürlich entschwände. Immer von neuem, bei den wissenschaftlichen Ursprungsmythen nicht anders als bei den religiösen, fühlen sie sich zu der Vorstellung gedrängt: Am Anfang war ein einzelner Mensch, und zwar ein einzelner Erwachsener.

Solange wir freilich im Bereich der Erfahrungen bleiben, können wir es nicht anders sehen, als daß der einzelne Mensch von anderen Menschen gezeugt und geboren wird. Welches auch die Ahnen der Menschen gewesen sein mögen, so weit wir zurückblicken, wir begegnen der nie abreißenden Kette von Eltern und Kindern, die Eltern werden. Und man kann in der Tat nicht verstehen, wie und warum die einzelnen Menschen durch einander und miteinander zu einer größeren Einheit zusammengebunden sind, wenn man sich diese Vision verdeckt. Jeder einzelne Mensch wird in eine Gruppe von Menschen hineingeboren, die vor ihm da war. Mehr noch: Jeder einzelne Mensch ist von Natur so beschaffen, daß er anderer Menschen, die vor ihm da waren, bedarf, um aufwachsen zu können. Zu den Grundbeständen der menschlichen Existenz gehört das gleichzeitige Dasein mehrerer Menschen in Beziehung zueinander. Und wenn man nun einmal, als Symbol des eigenen Selbstbewußtseins, eines Ursprungsmythos bedarf, dann scheint es an der Zeit, den herkömmlichen Mythos zu revidieren: Am Anfang, so könnte man sagen, war nicht ein einzelner Mensch, sondern mehrere Menschen, die miteinander lebten, die einander Lust und Leid schufen wie wir, die durch einander und ineinander auf- und untergingen, eine gesellschaftliche Einheit, groß oder klein.

Aber es gibt keinen solchen Sprung aus dem Nichts, und es bedarf keines Ursprungsmythos, um sich die elementare Gesellschaftsbezogenheit des einzelnen Menschen, seine natürliche Abgestelltheit auf ein Leben mit anderen Menschen verständlich zu machen. Die Tatsachen, wie wir sie unmittelbar vor Augen haben, genügen.

Die einzelnen Menschen mögen bei der Geburt ihrer natürlichen Konstitution nach sehr verschieden voneinander sein. Aber nur in Gesellschaft wird aus dem kleinen Kind mit seinen bildsamen und relativ undifferenzierten psychischen Funktionen ein differenzierteres Wesen. Nur in Beziehung und durch Beziehung zu anderen Menschen wird das hilflose, wilde Geschöpf, als das der Mensch zur Welt kommt, zu einem psychisch Erwachsenen, der den Charakter eines Individuums besitzt, der den Namen eines erwachsenen Menschen verdient. Abgeschnitten von solchen Beziehungen wächst es bestenfalls zu einem halbwilden Menschentiere heran: Es mag körperlich erwachsen werden; seinem psychischen Habitus nach bleibt es einem kleinen Kinde ähnlich. Nur wenn es in einem Verbande von Menschen aufwächst, lernt das kleine Menschenwesen artikuliert zu sprechen. Nur in Gesellschaft von anderen, von älteren Menschen bildet sich in ihm allmählich eine bestimmte Art von Langsicht und von Triebregulierung heraus. Und es hängt von der Geschichte, es hängt von dem Aufbau des Menschenverbandes, in den es hineinwächst, es hängt schließlich von seinem Werdegang und seiner Stellung innerhalb dieses Verbandes ab, welche Sprache, welches Schema der Triebregulierung und welche Art des Erwachsenenhabitus sich in ihm herausbildet.

Auch innerhalb des gleichen Menschenverbandes ist das Beziehungsschicksal zweier Menschen, ihre individuelle Geschichte, niemals völlig gleich. Jeder Mensch geht von einer einzigartigen Stelle innerhalb seines Beziehungsgeflechts durch eine einzigartige Geschichte hin dem Tode zu. Aber die Unterschiede zwischen den Werdegängen der einzelnen Menschen, zwischen den Stellen und Beziehungsfunktionen, durch die sie im Laufe ihres Lebens hingehen, sind in einfacheren Menschenverbänden geringer als in reich differenzierten Gesellschaften. Und größer als dort ist dementsprechend hier auch die Individualisierung der Erwachsenen. Mag es auch bei dem heutigen Stand der Denkgewohnheiten zunächst als paradox erscheinen: Individualität und Gesellschaftsbezogenheit eines Menschen stehen nicht nur nicht im Gegensatz zueinander, sondern die einzigartige Ziselierung und Differenzierung der psychischen Funktionen eines Menschen, der wir durch das Wort "Individualität" Ausdruck geben, sie ist überhaupt nur dann und nur dadurch möglich, daß ein Mensch in einem Verbande von Menschen, daß er in einer Gesellschaft aufwächst.

Zweifellos sind die Menschen auch ihrer natürlichen Konstitution nach verschieden. Aber die Konstitution, mit der ein Mensch zur Welt kommt, und ganz besonders die Konstitution seiner psychischen Funktionen ist bildsam. Das neugeborene Kind ist zunächst nicht mehr als der Entwurf eines Menschen. Aus dem, was wir an ihm als unterscheidend, als seine besondere Konstitution wahrnehmen, wächst seine individuelle Erwachsenengestalt nicht gleichermaßen zwangsläufig und eingleisig heraus wie aus dem Samenkorn eine Pflanze bestimmter Gattung, sondern diese unterscheidende Konstitution des Neugeborenen gibt zunächst noch Spielraum zu einer großen Fülle möglicher Individualitäten. Sie zeigt zunächst nichts anderes an als die Grenzen und die Lage der Streuungskurve, auf der die individuelle Gestalt des Erwachsenen einmal liegen kann. Wie diese wirklich beschaffen, welcher Art die schärfer umrissene Gestalt ist, zu der sich die weichen, die bildsamen Züge des Neugeborenen allmählich verfestigen, das hängt niemals allein von seiner Konstitution, das hängt immer von dem Verlauf der Beziehungen zwischen ihm und anderen Menschen ab.

Diese Beziehungen aber; etwa die Familienbeziehung, die Beziehungen zwischen Vater, Mutter, Kind und Geschwistern, variabel, wie sie im einzelnen sein mögen, sind in ihrer Grundstruktur durch den Aufbau der Gesellschaft bestimmt, in die das Kind hineingeboren wird und die vor ihm da war. Sie sind verschieden geartet in Gesellschaftsverbänden verschiedener Struktur. Daher haben die konstitutionellen Eigentümlichkeiten, mit denen ein Mensch zur Welt kommt, in verschiedenen Gesellschaftsverbänden, und auch in verschiedenen geschichtlichen Perioden des gleichen Gesellschaftsverbandes, für das Beziehungsschicksal des Einzelnen eine sehr verschiedene Bedeutung. Ähnliche natürliche Konstitutionen von Neugeborenen führen je nach diesem Beziehungsschicksal, je nach der Struktur des Beziehungsgeflechts, in dem sie groß werden, zu sehr verschiedenen Bewußtseins- und Triebgestaltungen. Nicht einfach von seiner natürlichen Konstitution, sondern von dem gesamten Individualisierungsprozeß hängt es ab, zu welcher Individualität sich ein Mensch schließlich heranbildet. Die unterscheidende Konstitution hat sicherlich eine unaufhebbare Bedeutung für sein ganzes Schicksal. Ein sensibles Kind hat in der gleichen Familie oder Gesellschaft ein anderes Schicksal zu erwarten als ein weniger sensibles. Aber dieses Schicksal und damit die individuelle Gestalt, zu der sich ein Mensch im Aufwachsen langsam entwickelt, ist nicht in der Konstitution, in der ererbten Natur des Neugeborenen bereits von vorneherein endgültig festgelegt. Was aus der unterscheidenden Konstitution des Neugeborenen wird, hängt von dem Aufbau der Gesellschaft ab, in der es heranwächst. Sein Schicksal, wie immer es im einzelnen verlaufen mag, ist als ganzes gesellschaftsspezifisch. Und gesellschaftsspezifisch ist dementsprechend auch die schärfer umrissene Erwachsenengestalt, die Individualität, die aus der weniger differenzierten Gestalt des kleinen Kindes im Hin und Her seines Schicksals allmählich hervorgeht. Den Unterschieden im Aufbau des abendländischen Menschengeflechts entsprechend bildet sich etwa in einem Kinde des 12. Jahrhunderts zwangsläufig eine andere Trieb- und Bewußtseinsstruktur und damit eine andere Individualität heraus als in einem Kinde des 20. Jahrhunderts. Es hat sich bei der Untersuchung des Zivilisationsprozesses deutlich genug gezeigt, in welchem Maße die gesamte Modellierung und mit ihr auch die individuelle Gestaltung der einzelnen Menschen von dem geschichtlichen Wandel der gesellschaftlichen Standarde, von der Struktur der menschlichen Beziehungen abhängt. Die Individualisierungsschübe selbst, etwa der Individualisierungsschub der Renaissance, sie sind nicht Folgen einer plötzlichen Mutation im Innern einzelner Menschen oder einer zufälligen Zeugung von besonders vielen begabten Menschen, sondern gesellschaftliche Ereignisse, etwa Folgen eines Aufbrechens älterer Verbände oder einer Veränderung in der sozialen Position des Handwerker-Künstlers, Folgen, kurz gesagt, einer spezifischen Umlagerung in der Struktur der menschlichen Beziehungen.

Auch von dieser Seite her verdeckt man sich leicht die fundamentale Bedeutung der Beziehungen zwischen den Menschen für den Einzelnen in ihrer Mitte. Und auch diese Schwierigkeiten haben, wenigstens zum Teil, ihren Grund in dem Typus der Denkmodelle, durch die man in Gedanken diese Beziehungen zu bewältigen sucht. Hier, wie so oft, sind diese Modelle der simpelsten Beziehung von dreidimensionalen Körpern abgewonnen. Die Umstellung, die Anstrengung, die es erfordert, diese Denkmodelle zu durchbrechen, ist sicherlich nicht geringer als die Anstrengung, die notwendig war, als man in der Physik selbst begann, statt von einzelnen Körpern, statt entweder von der Erde oder von der Sonne her, vielmehr von den Beziehungen zwischen den Körpern her, nämlich in Relationen zu denken. Man stellt sich die Beziehung zwischen Menschen heute oft genug ähnlich vor wie eine Beziehung zwischen Billardkugeln: Sie stoßen Zusammen und rollen wieder voneinander fort. Sie üben, so sagt man, eine "Wechselwirkung" aufeinander aus. Aber die Figur, die bei der Begegnung von Menschen entsteht, die "Verflechtungserscheinungen", sie sind etwas anderes als eine solche "Wechselwirkung" von Substanzen, als ein rein additives Zu- und Auseinander.

Man denke etwa an eine verhältnismäßig einfache menschliche Beziehungsfigur, an eine Unterhaltung: Ein Partner spricht. Der andere erwidert. Der erste antwortet zurück. Der zweite erwidert von neuem. Betrachtet man nicht nur eine einzelne Bemerkung und deren Gegenbemerkung, sondern das Gespräch und seinen Verlauf als ganzes, die Reihe der ineinander verflochtenen Gedanken, wie sie einander in steter Interdependenz fortbewegen, dann hat man ein Phänomen vor sich, das weder durch das physikalische Modell einer Wechselwirkung von Kugeln zureichend zu bewältigen ist noch etwa durch das physiologische des Verhältnisses von Reiz und Reaktion. Die Gedanken des einen wie des anderen können sich im Laufe des Gesprächs ändern. Es könnte zum Beispiel sein, daß sich zwischen den beiden Partnern im Laufe des Gesprächs eine gewisse Übereinstimmung herstellt. Es wäre möglich, daß der eine den anderen überzeugt. Dann geht etwas von diesem in jenen über. Es wird in dessen individuelles Gedankengebäude eingebaut. Es verändert dieses Gebäude, und es modifiziert sich zugleich auch seinerseits durch diesen Einbau in ein anderes individuelles Gedankensystem. Das gleiche gilt, wenn die Gegnerschaft sich im Laufe des Gesprächs bestätigt oder gar wächst. Dann gehen die Gedanken des einen als Gegner in den inneren Dialog des anderen ein und treiben auf diese Weise dessen Gedanken fort. Das Eigentümliche einer solchen Verflechtungsfigur besteht darin, daß sich in ihrem Verlauf bei jedem der Partner Gedanken, die vorher noch nicht vorhanden waren, bilden oder schon vorhandene weiterbilden können. Die Richtung und Ordnung dieser Bildung und Umbildung der Gedanken aber erklärt sich nicht allein aus dem Aufbau des einen Partners und nicht allein aus dem des anderen, sondern aus der Beziehung zwischen diesem und jenem. Und eben dies, daß sich Menschen in Beziehung zueinander und durch die Beziehung zueinander verändern, daß sie sich ständig in Beziehung zueinander gestalten und umgestalten, dies ist charakteristisch für das Phänomen der Verflechtung überhaupt.

Man stelle sich vor, jemand versuchte, die Reihe der Antworten des einen Partners in einem solchen Gespräch als eine Einheit für sich zu betrachten, die völlig unabhängig von der Verflechtungsfigur des Gesprächs Bestand hat und eine Ordnung für sich besitzt. So etwa geht man vor, wenn man die Individualität eines Menschen als etwas betrachtet, das unabhängig von seinem Beziehungsschicksal, von dem ständigen Weben der Beziehungsfäden, in dem dieser Mensch wurde und wird, Bestand hat. Daß sich die Menschen - anders als Billardkugeln - in der Beziehung und durch die Beziehung zueinander bilden und wandeln, mag vielleicht noch nicht völlig einsichtig werden, solange man beim Nachdenken ausschließlich erwachsene Menschen vor Augen hat, deren Charakter, deren Trieb- und Bewußtseinsstrukturen sich schon mehr oder weniger verfestigt und verhärtet haben. Auch sie sind ganz gewiß niemals völlig abgeschlossen und fertig. Auch sie können sich noch im Wandel ihres Beziehungsschicksals verändern, wenn auch nur verhältnismäßig schwer und im allgemeinen nur in ihrer bewußteren Selbststeuerung. Aber das, was hier als "Verflechtung" bezeichnet wird, und damit das ganze Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, kann niemals verständlich werden, solange man sich, wie es heute so oft der Fall ist, die "Gesellschaft" im wesentlichen als eine Gesellschaft von Erwachsenen vorstellt, von "fertigen" Individuen, die niemals Kinder waren und niemals sterben. Eine wirkliche Klarheit über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft vermag man erst dann zu gewinnen, wenn man das beständige Werden von Individuen inmitten einer Gesellschaft, wenn man den Individualisierungsprozeß in die Theorie der Gesellschaft mit einbezieht. Die Geschichtlichkeit jeder Individualität, das Phänomen des Heranwachsens und Erwachsenwerdens, nimmt beim Aufschluß dessen, was "Gesellschaft" ist, eine Schlüsselstellung ein. Die integrale Gesellschaftlichkeit des Menschen tritt erst dann zutage, wenn man sich klar macht, was die Beziehungen zu anderen Menschen für das kleine Kind bedeuten.

Das Kind ist nicht nur in ganz anderem Maße prägsam als der Erwachsene. Es bedarf der Prägung durch andere, es bedarf der Gesellschaft, damit aus ihm ein psychisch Erwachsener wird. Hier, bei dem Kind, sind es nicht nur Gedanken, nicht nur bewußtseinsgesteuerte Verhaltensweisen, die sich ständig in Beziehung zu anderen und durch die Beziehung zu anderen bilden und umbilden, sondern auch die Triebrichtungen, auch die triebgesteuerten Verhaltensweisen. Gewiß ist das, was sich in dem Neugeborenen langsam an Triebfiguren heranbildet, niemals einfach eine Abbildung dessen, was andere in Beziehung zu ihm tun und lassen. Es ist ganz sein eigen. Es ist seine Antwort auf die Art, in der seine Triebe und Emotionen, die von Natur auf andere Menschen ausgerichtet sind, durch diese anderen Antwort und Befriedigung finden. Erst aufgrund dieses kontinuierlichen Triebgesprächs mit anderen Menschen erhalten die elementaren, die unbehauenen Triebimpulse des kleinen Kindes eine fester umgrenzte Ausrichtung, eine schärfer umrissene Struktur; allein aufgrund eines solchen Triebgesprächs bildet sich in dem Kind jene differenzierte psychische Selbststeuerung heraus, durch die sich die Menschen von allen übrigen Lebewesen unterscheiden: ein mehr oder weniger individueller Charakter. Das Kind kann, um psychisch erwachsen, um ein menschliches Individuum zu werden, die Beziehung zu älteren und mächtigeren Wesen nicht entbehren. Ohne die Einverleibung von gesellschaftlich vorgeformten Modellen, von Teilen und Produkten dieser mächtigeren Wesen, ohne die Ausprägung seiner psychischen Funktionen durch sie, bleibt das kleine Kind, um es noch einmal zu sagen, nicht viel mehr als ein Tier. Und eben weil das hilflose Kind, um ein stärker individualisiertes und differenziertes Wesen zu werden, der gesellschaftlichen Modellierung bedarf, kann man die Individualität des Erwachsenen nur aus seinem Beziehungsschicksal, nur im Zusammenhang mit dem Aufbau der Gesellschaft, in der er heranwuchs, verstehen. So gewiß jeder Mensch ein Ganzes für sich ist, ein Individuum, das sich selbst steuert und das niemand zu steuern vermag, wenn es sich nicht selbst steuert, so gewiß ist zugleich die ganze Gestalt seiner Selbststeuerung, der bewußteren wie der unbewußteren, ein Verflechtungsprodukt, nämlich herangebildet in einem kontinuierlichen Hin und Her von Beziehungen zu anderen Menschen, so gewiß ist die individuelle Gestalt des Erwachsenen eine gesellschaftsspezifische Gestalt.

Das Neugeborene, das kleine Kind - nicht weniger als der Greis - hat einen gesellschaftlich zugewiesenen, durch den spezifischen Aufbau des zugehörigen Menschengeflechts geformten Platz. Ist seine Funktion für die Eltern gering oder wird sie - aufgrund einer Umlagerung der gesellschaftlichen Strukturen - geringer als zuvor, dann zeugen die Menschen entweder weniger Kinder oder töten unter Umständen auch die bereits geborenen. Es gibt keinen Nullpunkt der gesellschaftlichen Bezogenheit des Einzelnen, keinen "Anfang" oder Einschnitt, an dem er als ein verflechtungsfreies Wesen gleichsam von außen an die Gesellschaft herantritt, um sich nachträglich mit anderen Menschen zu verbinden; sondern wie Eltern dasein müssen, damit das Kind zur Welt kommt, wie die Mutter erst mit ihrem Blut, dann mit der Nahrung ihres Leibes das Kind nährt, so ist der Einzelne immer und von Grund auf in Beziehungen zu anderen da, und zwar in Beziehungen von ganz bestimmter, für seinen Verband spezifischer Struktur. Aus der Geschichte dieser seiner Beziehungen, seiner Abhängigkeiten und Angewiesenheiten, und damit, im weiteren Zusammenhang, aus der Geschichte des gesamten Menschengeflechts, in dem er aufwächst und lebt, erhält er sein Gepräge. Diese Geschichte, dieses Menschengeflecht ist in ihm gegenwärtig und durch ihn repräsentiert, ob er nun aktuell in Beziehungen zu anderen steht oder ob er allein ist, tätig inmitten einer Großstadt oder tausend Meilen von seiner Gesellschaft entfernt als Schiffbrüchiger auf einer Insel. Auch Robinson trägt das Gepräge einer bestimmten Gesellschaft, eines bestimmten Volkes und Standes an sich. Losgelöst von jeder Beziehung zu ihnen, wie er auf seiner Insel ist, verhält er sich, wünscht er und plant er ihrem Standard gemäß und wünscht, plant, verhält sich dementsprechend anders als Freitag, sosehr sich nun auch beide kraft einer neuen Lage aneinander anpassen und zueinander hinbilden.

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