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Universität Hannover          Wintersemester 2001/02
Institut für Soziologie
Prüfer: Dr. Hans-Peter Waldhoff
Beisitz: Elcin Kürsat-Ahlers

Thesenpapier zur Magisterzwischenprüfung
22. März 2002
von Felix Tietje

Inhaltsübersicht

Themen:

1.  Die relative Autonomie der Soziologie
    
und die wissenschaftliche Erforschung
    
der Wissenschaften

2.  Der Prozess der Zivilisation

 

Textgrundlagen:

  • Elias, Norbert: Was ist Soziologie? (WiS)
    Juventa, München, 1996
  • Elias, Norbert: Die Gesellschaft der Individuen (GdI)
    Suhrkamp tw 974, FfM 1991
  • Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation (PdZ I und II)
    Suhrkamp tw 158, FfM 1997

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Die relative Autonomie der Soziologie
und die wissenschaftliche Erforschung der Wissenschaften

Den Menschen ist im wissenschaftlichen Vergleich zu den anderen Lebewesen auf unserem Planeten eine evolutionäre Sonderstellung zuzuschreiben: Bei keiner anderen bekannten Spezies auf der Erde kann der Mensch derartige Formen des Zusammenlebens beobachten wie bei der Humanen. Dennoch können die Menschen nicht als Wesen betrachtet werden, die außerhalb der Entwicklungsprozesse der Natur leben. Die Ergebnisse der biologischen Wissenschaften belegen einen klaren ontogenetischen Entwicklungszusammenhang zwischen den verschiedenen Lebensformen auf der Erde.

In den hochspezialisierten Wissenschaftsdisziplinen der Biologie und der Medizin gibt es inzwischen vielfältige Studien über die Körperfunktionen des Menschen. Doch dieser hohe Grad an Spezialisierung aller Wissenschaftszweige bringt auch Schwierigkeiten mit sich. Sowohl die Biologie und Medizin, als auch die Soziologie haben die Menschen als Forschungsgegenstand. Nach Elias entsteht nun aber ein Problem, wenn man die wissenschaffenden Methoden der ersteren Disziplinen unhinterfragt in die letztere übernimmt. Es gab und gibt z.B. immer wieder Versuche, menschliche Phänomene einfach auf rein mechanische, monokausale Naturwissenschaftsprinzipien zurückzuführen. Dass aber z.B. menschliches Verhalten und Empfinden nicht allein durch die Erforschung der Körperchemie zu erklären ist, dürfte deutlich sein.

Das, was in der Soziologie mit dem Begriff "Individuum" gekennzeichnet wird, ist nicht das Gleiche wie das Bild, das in der Biologie von einem einzelnen Menschen entwickelt wurde. (GdI, S.259)

Nach Norbert Elias beschäftigen sich die verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen mit unterschiedlichen "Integrationsebenen". Die physikalisch-chemische Integrationsebene der Atome und Moleküle bildet in Elias Denkmodell eine niedrigere Ebene als die der biologischen Körperzellen, diese wiederum ist einer nächsten Ebene der Organe unterzuordnen, auf welche dann die Ebene der Organismen folgen würde, usw.

Eine höhere Integrationsebene besitzt jeweils aufgrund ihrer komplexer organisierten Funktionszusammenhänge ihrer Elemente Eigenschaften, die sich nicht vollständig durch Reduktion aus den Eigenschaften der jeweils niedrigeren Ebenen ableiten lassen, obwohl sie aus einem kontinuierlichen ontogenetischen Prozess hervorgegangen sind.

Die menschliche Integrationsebene ist eine Stufe der Entwicklung, die Eigenschaften aufweist, die auf keiner der vorhergehenden Stufen zu beobachten sind, und deren Prozesse sich auch nicht einfach aus den Eigenschaften der Prozesse auf niedrigeren Stufen, etwa der der in Herden lebenden Tiere, oder der Ebene der chemischen Vorgänge im menschlichen Gehirn, ableiten lassen. Das Ganze ist immer mehr als die Summe seiner Teile.

Daraus folgt nach Norbert Elias die Erkenntnis, dass für eine realitätsangemessene sozio- und psychologische Beschreibung menschlicher Prozesse andere Denkwerkzeuge als bei der Erforschung biologischer oder anderer, auch nichtmenschlicher Aspekte der Natur vonnöten sind (WiS, S.112).

Er begründet hiermit die "relative Autonomie" der Soziologie gegenüber den Naturwissenschaften.

Elias kritisiert, dass in den meisten Fällen wissenschaftlicher Arbeit die Denkmodelle und Forschungsmethoden relativ unhinterfragt angewendet werden. Die menschliche Denktätigkeit bzw. -fähigkeit wird zumeist als selbstverständlich angesehen (WiS, S.42). Die Form des Denkens (etwa die angeborenen Ideen in Platons Lehre, oder die "Gesetze" des logischen Denkens und der Vernunft bei Aristoteles) erscheint so als ewig, nur die Denkinhalte scheinen sich zu wandeln. Dies führt zu trügerischen Vorstellungen, und aus ihnen entstehen einige hausgemachte Schwierigkeiten, mit denen Wissenschaftler immer wieder zu kämpfen haben. Ebenso ist es problematisch, die erfolgreichen naturwissenschaftlichen Methoden der Erkenntnis unreflektiert in die Gesellschaftswissenschaften zu übernehmen.

Nach Elias muss sich ein Wissenschaftler - sofern er nach realitätsangemessener Erkenntnis strebt - darüber im klaren sein, dass das Denken, die menschliche Fähigkeit mit Hilfe von Symbolen verschiedenste Erlebnisse zu reflektieren, nicht angeboren ist, sondern aus einem langfristigen Prozess hervorging (ein Prozess, der noch immer andauert). Und dass damit auch das Denken eines Individuums immer in eine mehrere Generationen übergreifende Kette von übermittelten Denkprozessen eingebunden ist. Jeder Mensch lernt das Denken und Fühlen immer in Abhängigkeit der jeweiligen Gesellschaft, in die er hineingeboren wird. Diese erlernten Verhaltensstrukturen werden in den meisten Fällen stark verinnerlicht, werden im Bild eines Menschen von sich selbst zur Selbst-verständlichkeit, so dass dieses Selbstbild dann leicht als "natürlich" erscheint, es wird habitualisiert, zur "zweiten Natur" des Menschen.

Hieraus folgt für Elias die Notwendigkeit zur Selbstdistanzierung. Eine relativ realitätsangemessene Sicht auf die Prozesse, die ein Mensch untersuchen möchte, kann er nur  bekommen, wenn er in der Lage ist, "in Gedanken sich selbst gegenüberzutreten und seiner selbst als eines Menschen unter anderen gewahr zu werden." (WiS, S. 9). Er muß den Entwicklungsprozess in Rechnung stellen, aus dem er selbst und sein Denken hervorgegangen ist. Das menschliche Denken lässt sich als eine individuell erlernte Form der Selbstregulierung momentaner trieb- und affektbedingter Verhaltensimpulse kennzeichnen. Der Mensch muss diese Fähigkeit erst entwickeln, sein Verhalten zu reflektieren. Er kann durch Lernprozesse von einem stark emotionalen, engagierten Verhalten, hin zu einem mehr von spontanen Trieben und Affekten distanzierten, bewussten Handeln gelangen.

Norbert Elias fordert eine soziologisch begründete Wissenschafts- und Erkenntnistheorie als Forschungsgrundlage in den Gesellschaftswissenschaften. Den Grundstein zu so einer Theorie hat Elias bereits in den 30er Jahren in seinem Werk "Über den Prozess der Zivilisation" gelegt.

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Der Prozess der Zivilisation

Menschen besitzen keine angeborene Trieb- und Affektregelung. Die menschliche Spezies zeichnet sich im Unterschied zu den anderen bekannten Lebewesen dadurch aus, dass die Verhaltenssteuerung und Empfindensmuster der Individuen in nur sehr geringem Ausmaß in genetisch vorgegebenen biologischen Strukturen (Instinkten) fixiert sind, sondern dass sie erst erlernt werden muss. ("Menschen können nicht nur, sie müssen lernen, um überleben zu können", "Disposition zum Lernen"). Die Verhaltenssteuerung der Menschen wird also in einem individuellen Prozess der symbolischen Vermittlung von Verhaltensmustern und übermittelten Erfahrungen erlernt ("soziale Vererbung").

Es besteht eine Disposition zum Lernen, eine, "biologisch bedingte relative Loslösung von biologischen Mechanismen" des Verhaltens; eine "relative Freisetzung von ungelernten Verhaltensmechanismen" (WiS, S.117f). Dieser Sachverhalt bezieht sich auch auf das Denken und die Denkformen beim Menschen.

Im menschlichen Gedächtnis, wird Gelerntes und Erfahrenes selektiv gespeichert und wirkt dann steuernd auf Verhaltens-, Empfindens-, Denk- und Wahrnehmungsformen. Der individuelle menschliche Lern- und Entwicklungsprozess kristallisiert also im Organismus eines Menschen. (GdI, S.250f).

Mit der Fähigkeit, Erlebtes und Gelerntes im Gedächtnis zu behalten und nach Bedarf abzurufen, besitzt die menschliche Gattung also auch die Fähigkeit, Langsicht zu entwickeln: Menschen können sich aufgrund ihres Gedächtniswerkzeugs in Gedanken und mit Hilfe von Symbolen von der momentanen Situation, ihren Affekten und Emotionen distanzieren, und z.B. über  vergangene oder zukünftige Ereignisse nachdenken.

In seinem Werk "Über den Prozess der Zivilisation" zeichnet Elias zum einen bestimmte historische Veränderungsprozesse in westeuropäischen Gesellschaften nach, zum anderen beleuchtet er parallel dazu die damit einhergehende Veränderung der Empfindens- und Verhaltensmuster der Menschen. Er zeigt die Ordnung des Wandels mit Hilfe der vergleichenden Methode.

Der Begriff der "Zivilisation" bezeichnet bei Elias einen langfristigen Veränderungsprozess des menschlichen Verhaltens und Empfindens in einer ganz bestimmten Richtung (PdZ II, S.323): das Bewusstsein wird weniger triebdurchlässig und die Triebe weniger bewusstseinsdurchlässig (PdZ II, S. 401). Die Regelung des gesamten Trieb- und Affektlebens der Menschen wurde durch eine beständig wachsende Selbstkontrolle immer allseitiger, gleichmäßiger und stabiler (PdZ II, S.324)

Im historischen Rückblick wurde die Zahl der zusammenlebenden Menschen in Westeuropa immer größer, damit differenzierte sich die Funktionsteilung in diesen Gesellschaften. Durch diese wachsende Funktionsverflechtung verstärken sich auch die gegenseitigen Abhängigkeiten. Die Interdependenz nimmt zu. Die gesellschaftlichen Hierarchien werden dabei durchlässiger ("die soziale Mobilität wächst"), Individuen verschiedenster sozialer Herkunft treffen aufeinander, und müssen sich arrangieren. Der Konkurrenzdruck wächst.

Dabei werden auch die Zwänge, die Menschen aufeinander ausüben, stärker. Es entstand eine immer größere Notwendigkeit, das Verhalten der anderen Menschen zu beobachten, und das eigene Verhalten zu kontrollieren (PdZ II, S.357f), da das Leben von immer mehr Menschen aufeinander abgestimmt sein musste. Die Anforderungen an eine immer stärkere, umfassendere und verlässlichere Selbstkontrolle wachsen. Es entsteht so ein gesellschaftlicher Zwang zur Langsicht, zu einer immer differenzierteren Selbstdisziplinierung. Zunächst nur in kleinen Funktionszentren der Oberschicht, durch sich verlängernde Interdependenzketten pflanzt sich diese Transformation der gesellschaftlichen Funktionen und damit des Verhaltens und des gesamten psychischen Apparates jedoch fort und breitet sich aus zu einem Prozess, der nun im historischen Rückblick als "abendländische Zivilisationsbewegung" (PdZ II, S.362) bezeichnet wird.

Diese gesellschaftlichen Fremdzwänge, die längerfristig auf Menschen einwirken (vor allem jene, denen Menschen von klein auf ausgesetzt sind), werden dann zu Selbstzwängen, die nahezu automatisch, zumeist unbewusst ablaufen und kaum hinterfragt werden. Die Verhaltens-, Empfindens- und Kontrollmuster werden habitualisiert. Elias spricht zuweilen von einer "automatisch und blind arbeitenden Selbstkontrollapparatur" (PdZ II, S.328). Diese Selbstkontrolle beschreibt Elias als eine "Dämpfung der spontanen Wallungen, Zurückhaltung der Affekte, Weitung des Gedankenraums über den Augenblick hinaus in die vergangenen Ursach-, die zukünftigen Folgeketten" (PdZ II, S.333). Es sind dies Funktionen, die bei Sigmund Freud als "Über-Ich" bezeichnet sind. Dies ist der Zivilisierungsprozess, der sich auf individueller, psychischer Ebene vollzieht, die psychogenetische Betrachtung. Komplementär dazu beleuchtet Elias auch die sich parallel vollziehende, gesellschaftliche Entwicklung: die soziogenetische Untersuchung des Zivilisationsprozesses.

Die fortschreitende Differenzierung der gesellschaftlichen Funktionen führt langfristig zur Herausbildung von Institutionen und Monopolen  (so z.B. die Polizei und das Gewaltmonopol). Diese Institutionen haben die zentrale Eigenschaft, dass sie relativ unabhängig vom Wirken und Wollen einzelner Menschen bestehen, wenn auch nicht unabhängig von Menschen überhaupt.

Die entstehende Selbstkontrollapparatur der Menschen ist also der eine, der psychogenetische,  die Entwicklung der Monopolisierung der körperlichen Gewalt ist der andere, soziogenetische Aspekt der Veränderung des menschlichen Verhaltens im Sinne des Begriffs der "Zivilisation". (PdZ II, S.333). Diese langfristigen Wandlungen individueller Persönlichkeitsstrukturen und die langfristigen gesamtgesellschaftlichen Strukturwandlungen in Westeuropa stehen in interdependentem Zusammenhang (PdZ I, S.11).

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