| zurück zum Inhalt Der Prozess der Zivilisation Menschen besitzen keine angeborene Trieb- und Affektregelung. Die menschliche Spezies zeichnet sich im Unterschied zu den anderen bekannten Lebewesen dadurch aus, dass die Verhaltenssteuerung und Empfindensmuster der Individuen in nur sehr geringem Ausmaß in genetisch vorgegebenen biologischen Strukturen (Instinkten) fixiert sind, sondern dass sie erst erlernt werden muss. ("Menschen können nicht nur, sie müssen lernen, um überleben zu können", "Disposition zum Lernen"). Die Verhaltenssteuerung der Menschen wird also in einem individuellen Prozess der symbolischen Vermittlung von Verhaltensmustern und übermittelten Erfahrungen erlernt ("soziale Vererbung").
Es besteht eine Disposition zum Lernen, eine, "biologisch bedingte relative Loslösung von biologischen Mechanismen" des Verhaltens; eine "relative Freisetzung von ungelernten Verhaltensmechanismen" (WiS, S.117f). Dieser Sachverhalt bezieht sich auch auf das Denken und die Denkformen beim Menschen.
Im menschlichen Gedächtnis, wird Gelerntes und Erfahrenes selektiv gespeichert und wirkt dann steuernd auf Verhaltens-, Empfindens-, Denk- und Wahrnehmungsformen. Der individuelle menschliche Lern- und Entwicklungsprozess kristallisiert also im Organismus eines Menschen. (GdI, S.250f).
Mit der Fähigkeit, Erlebtes und Gelerntes im Gedächtnis zu behalten und nach Bedarf abzurufen, besitzt die menschliche Gattung also auch die Fähigkeit, Langsicht zu entwickeln: Menschen können sich aufgrund ihres Gedächtniswerkzeugs in Gedanken und mit Hilfe von Symbolen von der momentanen Situation, ihren Affekten und Emotionen distanzieren, und z.B. über vergangene oder zukünftige Ereignisse nachdenken.
In seinem Werk "Über den Prozess der Zivilisation" zeichnet Elias zum einen bestimmte historische Veränderungsprozesse in westeuropäischen Gesellschaften nach, zum anderen beleuchtet er parallel dazu die damit einhergehende Veränderung der Empfindens- und Verhaltensmuster der Menschen. Er zeigt die Ordnung des Wandels mit Hilfe der vergleichenden Methode.
Der Begriff der "Zivilisation" bezeichnet bei Elias einen langfristigen Veränderungsprozess des menschlichen Verhaltens und Empfindens in einer ganz bestimmten Richtung (PdZ II, S.323): das Bewusstsein wird weniger triebdurchlässig und die Triebe weniger bewusstseinsdurchlässig (PdZ II, S. 401). Die Regelung des gesamten Trieb- und Affektlebens der Menschen wurde durch eine beständig wachsende Selbstkontrolle immer allseitiger, gleichmäßiger und stabiler (PdZ II, S.324)
Im historischen Rückblick wurde die Zahl der zusammenlebenden Menschen in Westeuropa immer größer, damit differenzierte sich die Funktionsteilung in diesen Gesellschaften. Durch diese wachsende Funktionsverflechtung verstärken sich auch die gegenseitigen Abhängigkeiten. Die Interdependenz nimmt zu. Die gesellschaftlichen Hierarchien werden dabei durchlässiger ("die soziale Mobilität wächst"), Individuen verschiedenster sozialer Herkunft treffen aufeinander, und müssen sich arrangieren. Der Konkurrenzdruck wächst.
Dabei werden auch die Zwänge, die Menschen aufeinander ausüben, stärker. Es entstand eine immer größere Notwendigkeit, das Verhalten der anderen Menschen zu beobachten, und das eigene Verhalten zu kontrollieren (PdZ II, S.357f), da das Leben von immer mehr Menschen aufeinander abgestimmt sein musste. Die Anforderungen an eine immer stärkere, umfassendere und verlässlichere Selbstkontrolle wachsen. Es entsteht so ein gesellschaftlicher Zwang zur Langsicht, zu einer immer differenzierteren Selbstdisziplinierung. Zunächst nur in kleinen Funktionszentren der Oberschicht, durch sich verlängernde Interdependenzketten pflanzt sich diese Transformation der gesellschaftlichen Funktionen und damit des Verhaltens und des gesamten psychischen Apparates jedoch fort und breitet sich aus zu einem Prozess, der nun im historischen Rückblick als "abendländische Zivilisationsbewegung" (PdZ II, S.362) bezeichnet wird.
Diese gesellschaftlichen Fremdzwänge, die längerfristig auf Menschen einwirken (vor allem jene, denen Menschen von klein auf ausgesetzt sind), werden dann zu Selbstzwängen, die nahezu automatisch, zumeist unbewusst ablaufen und kaum hinterfragt werden. Die Verhaltens-, Empfindens- und Kontrollmuster werden habitualisiert. Elias spricht zuweilen von einer "automatisch und blind arbeitenden Selbstkontrollapparatur" (PdZ II, S.328). Diese Selbstkontrolle beschreibt Elias als eine "Dämpfung der spontanen Wallungen, Zurückhaltung der Affekte, Weitung des Gedankenraums über den Augenblick hinaus in die vergangenen Ursach-, die zukünftigen Folgeketten" (PdZ II, S.333). Es sind dies Funktionen, die bei Sigmund Freud als "Über-Ich" bezeichnet sind. Dies ist der Zivilisierungsprozess, der sich auf individueller, psychischer Ebene vollzieht, die psychogenetische Betrachtung. Komplementär dazu beleuchtet Elias auch die sich parallel vollziehende, gesellschaftliche Entwicklung: die soziogenetische Untersuchung des Zivilisationsprozesses.
Die fortschreitende Differenzierung der gesellschaftlichen Funktionen führt langfristig zur Herausbildung von Institutionen und Monopolen (so z.B. die Polizei und das Gewaltmonopol). Diese Institutionen haben die zentrale Eigenschaft, dass sie relativ unabhängig vom Wirken und Wollen einzelner Menschen bestehen, wenn auch nicht unabhängig von Menschen überhaupt.
Die entstehende Selbstkontrollapparatur der Menschen ist also der eine, der psychogenetische, die Entwicklung der Monopolisierung der körperlichen Gewalt ist der andere, soziogenetische Aspekt der Veränderung des menschlichen Verhaltens im Sinne des Begriffs der "Zivilisation". (PdZ II, S.333). Diese langfristigen Wandlungen individueller Persönlichkeitsstrukturen und die langfristigen gesamtgesellschaftlichen Strukturwandlungen in Westeuropa stehen in interdependentem Zusammenhang (PdZ I, S.11). |