| zurück zum Inhalt nach unten Wie lassen sich die Menschen in ein Gedankenmodell der Biosphäre einordnen? Beim
soziologischen Erforschen menschlichen Verhaltens und der Form ihrer
Gesellschaftsbildung wurde ersichtlich, dass den Menschen innerhalb der
Natur eine evolutionäre Sonderstellung zuzuschreiben ist. Bei keiner
anderen bekannten Spezies auf der Erde kann der Mensch derartige Formen
des Zusammenlebens beobachten wie bei der Humanen.
Wenn den
Menschen nun aber eine Sonderstellung zugeschrieben wird, besteht die
Gefahr, die menschliche Ebene des Lebens im Gedankenmodell als ein
Objekt ausserhalb der Naturzusammenhänge zu betrachten, so wie eine
Wesenheit, welche ausserhalb der ontogenetischen Kontinuität, das
heißt, ausserhalb des Entwicklungsprozesses der Natur zu existieren
scheint.
Dies passierte in der Gedankenwelt mancher
Geisteswissenschaftler, die eine scharfe Trennlinie zwischen "Natur"
auf der einen und "Kultur" auf der anderen Seite zu ziehen versuchten.
Im
Gegensatz dazu reduzierten andere eher "naturwissenschaftliche"
Theorien menschliche Phänomene einfach auf rein mechanische,
monokausale Naturwissenschaftsprinzipien. Dass aber z.B. menschliches
Verhalten nicht allein durch die Körperchemie zu erklären ist, dürfte
heutzutage deutlich sein.
Norbert Elias schreibt hierzu
(in Text 2, S.255): "Die Tatsache, dass Menschen sich weder auf Materie
noch auf Tiere reduzieren lassen, obgleich sie aus Materie bestehen und
aus Tieren hervorgegangen sind, dass sie (...) innerhalb des
kontinuierlichen evolutionären Prozesses den Durchbruch zu neuartigen
und singulären organischen Strukturen repräsentieren, wird durch solche
Reduktionsversuche beiseite geschoben."
Der
prozess-soziologische Ansatz von Norbert Elias versucht "die Lücke
zwischen dem Animalischen und dem Humanen zu schließen" (Text 3, S.
339). Nach Elias besteht also kein Bruch zwischen der Natur und der
Kultur der Menschen, es fand jedoch ein Durchbruch zu einer
neuen Stufe statt, für den der Mensch ausserhalb der menschlichen
Sphäre keine gleichwertige Entwicklung wissenschaftlich beobachten kann.
Norbert Elias teilt wissenschaftlich unterscheidbare Prozesse in verschiedene Ebenen der Integration
ein, um die Phänomene begreifbar, also begrifflich kommunizierbar zu
machen. Die physikalisch-chemische Integrationsebene der Atome und
Moleküle bildet in Elias Denkmodell demnach eine niedrigere Ebene als
die der biologischen Körperzellen, diese wiederum ist einer nächsten
Ebene der Organe unterzuordnen, auf welche dann die Ebene der
Organismen folgen würde, usw.
Organismen Vielzeller bzw. Organe Einzeller Großmoleküle Kleinmoleküle Atome | aus Organsystemen aus Einzelzellen aus Großmolekülen aus Kleinmolekülen aus Atomen aus subatomaren Teilchen |
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Eine höhere Integrationsebene besitzt jeweils aufgrund ihrer komplexer organisierten Funktionszusammenhänge
ihrer Elemente Eigenschaften, die sich nicht vollständig durch
Reduktion aus den Eigenschaften der jeweils niedrigeren Ebenen ableiten
lassen.
Die menschliche Integrationsebene ist eine Stufe der
Entwicklung, die Eigenschaften aufweist, die auf keiner der
vorhergehenden Stufen existieren, und deren Prozesse sich auch nicht
einfach aus den Eigenschaften der Prozesse auf niedrigeren Stufen, etwa
der der in Herden lebenden Tiere, oder der Ebene der chemischen
Vorgänge im menschlichen Gehirn, ableiten lassen. Das Ganze ist immer
mehr als die Summe seiner Teile.
Daraus folgt nach Norbert Elias
auch die Erkenntnis, dass für eine realitätsangemessene Beschreibung
menschlicher Prozesse andere Denkwerkzeuge als bei der Erforschung
biologischer oder anderer nichtmenschlicher Aspekte der Natur vonnöten
sind. (Text 1, S.112) Er begründet hiermit die "relative Autonomie" der Soziologie gegenüber den Naturwissenschaften. zurück zum Inhalt nach unten Welche besonderen Eigenschaften lassen sich auf der menschlichen Integrationsebene feststellen? Die
Verhaltenssteuerung der Menschen wird in nur sehr geringem Ausmaß durch
ererbte biologische Strukturen ihrer Organismen, sondern primär durch symbolisch vermittelte, erlernte Verhaltensmuster und übermittelte Erfahrungen bestimmt.
Die Menschen können nicht nur, sie müssen lernen, um überleben zu können, sie sind im Unterschied zu anderen Lebewesen nur in geringem Maße instinktgesteuert.
Es besteht eine Disposition zum Lernen,
eine, "biologisch bedingte relative Loslösung von biologischen
Mechanismen" des Verhaltens (Text 1 S. 117); eine "relative Freisetzung
von ungelernten Verhaltensmechanismen" (S. 118).
Die Art und
Weise des menschlichen Zusammenlebens, sowohl die Formen der
Gesellschaftsbildung als auch die zwischenmenschlichen
Kommunikationsformen sind bei der Gattung Mensch zwar auf spezifische
Weise durch physiologische Gegebenheiten bedingt, jedoch bleiben die
psychischen Steuerungsfunktionen dieser Strukturen durch individuelle Lernprozesse wandelbar, welche relativ autonom von biologischen Mechanismen ablaufen (Text 1, S.117 ; Text 2, S.260).
Im
Vergleich zu Tieren auf niedrigerer Integrationsebene hat sich die
Balance zwischen angeborener und erlernter Verhaltenssteuerung bei den
Menschen in Richtung Lernen verschoben (Text 3, S.337).
Die
"Apparatur des Lernens" (u.a. das Großhirn) ist bei den Menschen
biologisch angelegt, wie es bei manchen höher entwickelten Tieren auch
der Fall ist, aber Menschen sind in weit höherem Maße vom Erlernen der
Verhaltenssteuerung abhängig.
Hieraus ergibt sich evolutionär betrachtet nicht nur die Möglichkeit zur Bildung menschlicher Gesellschaften, sondern eine biologisch verankerte Gesellschaftsbezogenheit der Menschen.
Menschen sind nur in und durch Gesellschaften lebens- und
überlebensfähig. Das Verhalten eines Menschen erwächst aus den
spezifischen gesellschaftlichen Figurationen, in denen er lebt.
Die
Fähigkeit zum Lernen bringt eine enorme Adaptionsfähigkeit der
menschlichen Spezies mit sich: die menschliche Anpassung an
verschiedenste Lebensräume erfolgte primär durch soziale und kulturelle
Lernprozesse, und nicht durch biologische (genetische) Veränderungen.
(Text 5, S. 39: "99,8 Prozent aller Gene sind bei allen Menschen
gleich, egal wo, unter welchen Bedingungen und in welcher Kultur diese
Menschen leben" ). Tierische Gesellschaften ändern sich (mit wenigen Ausnahmen) nur, wenn sich die biologische Spezies selbst ändert. zurück zum Inhalt nach unten Die zwei Naturen der Menschen Menschen
besitzen also biologisch vorgegebene Verhaltensstrukturen wie ihre
Triebe, Reflexe und Überlebensinstinkte (Hunger, Fortpflanzungstrieb) -
ihre "erste Natur" - welche jedoch aufgrund der Disposition zum
Lernen immer mit gesellschaftsspezifisch erlernten Strukturen der
Verhaltensteuerung organisch (neuronal) verknüpft werden (Text 2,
S.255; Text 4, S. 50f). Diese erlernten Komponenten des Verhaltens,
zum Beispiel die Sprache, die Emotionen und das Gewissen sind
spezifisch menschlich, haben eine natürliche Grundlage, und werden
immer gesellschaftsspezifisch und in individuell unterscheidbaren
Prozessen erlernt.
Im menschlichen Gedächtnis wird
Gelerntes und Erfahrenes selektiv gespeichert und wirkt dann steuernd
auf Verhaltens-, Empfindens-, Denk- und Wahrnehmungsformen. Der
individuelle menschliche Lern- und Entwicklungsprozess kristallisiert
also im Organismus eines Menschen. (Text 2, S.250f)
Diese
erlernten Verhaltensstrukturen werden meist so stark verinnerlicht,
werden im Bild eines Menschen von sich selbst zur
Selbst-verständlichkeit, so dass dieses Selbstbild als "natürlich" erscheint, es wird habitualisiert, zu seiner "zweiten Natur".
Jeder Mensch verhält sich so mit einem individuell geprägten Habitus. Die menschliche Gedächtnisleistung ist also auch Grundlage der individuellen Identitätsbildung eines Menschen. zurück zum Inhalt Literaturangaben Die Distanzierungsfähigkeit der Menschen Mit
der Fähigkeit, Erlebtes und Gelerntes im Gedächtnis zu behalten und
nach Bedarf abzurufen, besitzt die menschliche Gattung also auch eine
Sonderstellung, die Fähigkeit zur Langsicht zu entwickeln. Menschen können sich aufgrund ihres Gedächtniswerkzeugs in Gedanken und mit Hilfe von Symbolen von der momentanen Situation, ihren Affekten und Emotionen distanzieren,
und z.B. über vergangene oder zukünftige Ereignisse nachdenken. Auf
diese Weise haben Menschen die Möglichkeit, ihrer eigenen Person und
ihrem Handeln reflektierend gegenüberzutreten und sich ein Bild von
sich selbst zu machen; sich ihrer eigenen Identität bewusst zu werden.
(Text 2, S.251)
Dies wiederum ermöglicht ihnen, ihr Verhalten
langfristig zu planen und sich im Voraus auf Situationen vorzubereiten.
Das Gedächtnis ist somit auch die Voraussetzung um z.B. gezielt
Erfahrungen an spätere Generationen weitergeben zu können, um
methodisches Verhalten zu entwickeln oder um Werkzeuge herzustellen. Langfristige
Prozesse betrachtet, ist es vor allem das symbolisch fixierte und
übermittelte Wissen, das über viele Generationen hinweg eine
verhaltens- und handlungssteuernde Funktion innehat.
Auch Art
und Grad der Distanzierungsfähigkeit und der Fähigkeit zur Langsicht
werden gesellschaftsspezifisch entwickelt und weisen daher Unterschiede
sowohl zwischen verschiedenen Menschengruppen als auch zwischen den
Individuen auf. zurück zum Inhalt Literaturangaben: Readertext 1: aus: Norbert Elias: Was ist Soziologie?, Weinheim und München 1996 [1970]
Readertext 2: aus: Norbert Elias: Die Gesellschaft der Individuen, FfM 1994 [1987]
Readertext 3: aus: Norbert Elias: Über Menschen und ihre Emotionen in: Roland Posner (Hrsg.): Zeitschrift für Semiotik, Bd.12, Heft 4, Tübingen 1990
Readertext 4: aus: Peter L. Berger & Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, FfM 1997
Readertext 5: aus: Thomas Hylland Eriksen: Small Places, Large Issues. An Introduction to Social and Cultural Anthropology, London, 1997
Readertext 6: aus: David Pilbeam: The Ascent of Man, New York / London 1972
Readertext 7: aus: Bernard G. Campbell: Human Evolution. An Introduction to Man's Adaptations, Chicago 1966 |