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Universität Hannover 
Institut für Soziologie
Seminar: " Homines aperti "
                 - Zum Menschenbild der Prozeß- und Figurationssoziologie
Dozent: Prof. Dr. Dawud Gholamasad
Referent: Felix Tietje

Anthropologische Grundlagen
der Soziologie


Die Stellung der Menschen
im Integrationsebenenmodell
von Norbert Elias

Welche biologischen Eigentümlichkeiten der Menschen
begründen die Möglichkeit der Entwicklung
menschlicher Gesellschaften?

Textgrundlagen: Texte Nr. 1 bis 7 im Reader des Seminars (Siehe Literaturangaben)
 

Inhaltsübersicht:

Wie lassen sich die Menschen in ein Gedankenmodell der Biosphäre einordnen?

Welche besonderen Eigenschaften lassen sich auf der menschlichen Integrationsebene feststellen?

Die zwei Naturen der Menschen

Die Distanzierungsfähigkeit der Menschen

Literaturangaben
 

 

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Wie lassen sich die Menschen in ein Gedankenmodell der Biosphäre einordnen?

Beim soziologischen Erforschen menschlichen Verhaltens und der Form ihrer Gesellschaftsbildung wurde ersichtlich, dass den Menschen innerhalb der Natur eine evolutionäre Sonderstellung zuzuschreiben ist. Bei keiner anderen bekannten Spezies auf der Erde kann der Mensch derartige Formen des Zusammenlebens beobachten wie bei der Humanen.

Wenn den Menschen nun aber eine Sonderstellung zugeschrieben wird, besteht die Gefahr, die menschliche Ebene des Lebens im Gedankenmodell als ein Objekt ausserhalb der Naturzusammenhänge zu betrachten, so wie eine Wesenheit, welche ausserhalb der ontogenetischen Kontinuität, das heißt, ausserhalb des Entwicklungsprozesses der Natur zu existieren scheint.

Dies passierte in der Gedankenwelt mancher Geisteswissenschaftler, die eine scharfe Trennlinie zwischen "Natur" auf der einen und "Kultur" auf der anderen Seite zu ziehen versuchten.

Im Gegensatz dazu reduzierten andere eher "naturwissenschaftliche" Theorien menschliche Phänomene einfach auf rein mechanische, monokausale Naturwissenschaftsprinzipien. Dass aber z.B. menschliches Verhalten nicht allein durch die Körperchemie zu erklären ist, dürfte heutzutage deutlich sein.

Norbert Elias schreibt hierzu (in Text 2, S.255): "Die Tatsache, dass Menschen sich weder auf Materie noch auf Tiere reduzieren lassen, obgleich sie aus Materie bestehen und aus Tieren hervorgegangen sind, dass sie (...) innerhalb des kontinuierlichen evolutionären Prozesses den Durchbruch zu neuartigen und singulären organischen Strukturen repräsentieren, wird durch solche Reduktionsversuche beiseite geschoben."

Der prozess-soziologische Ansatz von Norbert Elias versucht "die Lücke zwischen dem Animalischen und dem Humanen zu schließen" (Text 3, S. 339). Nach Elias besteht also kein Bruch zwischen der Natur und der Kultur der Menschen, es fand jedoch ein Durchbruch zu einer neuen Stufe statt, für den der Mensch ausserhalb der menschlichen Sphäre keine gleichwertige Entwicklung wissenschaftlich beobachten kann.


Norbert Elias teilt wissenschaftlich unterscheidbare Prozesse in verschiedene Ebenen der Integration ein, um die Phänomene begreifbar, also begrifflich kommunizierbar zu machen. Die physikalisch-chemische Integrationsebene der Atome und Moleküle bildet in Elias Denkmodell demnach eine niedrigere Ebene als die der biologischen Körperzellen, diese wiederum ist einer nächsten Ebene der Organe unterzuordnen, auf welche dann die Ebene der Organismen folgen würde, usw.


Organismen
Vielzeller bzw. Organe
Einzeller
Großmoleküle
Kleinmoleküle
Atome
 

aus Organsystemen
aus Einzelzellen
aus Großmolekülen
aus Kleinmolekülen
aus Atomen
aus subatomaren Teilchen


Eine höhere Integrationsebene besitzt jeweils aufgrund ihrer komplexer organisierten Funktionszusammenhänge ihrer Elemente Eigenschaften, die sich nicht vollständig durch Reduktion aus den Eigenschaften der jeweils niedrigeren Ebenen ableiten lassen.

Die menschliche Integrationsebene ist eine Stufe der Entwicklung, die Eigenschaften aufweist, die auf keiner der vorhergehenden Stufen existieren, und deren Prozesse sich auch nicht einfach aus den Eigenschaften der Prozesse auf niedrigeren Stufen, etwa der der in Herden lebenden Tiere, oder der Ebene der chemischen Vorgänge im menschlichen Gehirn, ableiten lassen. Das Ganze ist immer mehr als die Summe seiner Teile.

Daraus folgt nach Norbert Elias auch die Erkenntnis, dass für eine realitätsangemessene Beschreibung menschlicher Prozesse andere Denkwerkzeuge als bei der Erforschung biologischer oder anderer nichtmenschlicher Aspekte der Natur vonnöten sind.  (Text 1, S.112)  Er begründet hiermit die "relative Autonomie" der Soziologie gegenüber den Naturwissenschaften.

 

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Welche besonderen Eigenschaften lassen sich auf der menschlichen Integrationsebene feststellen?

Die Verhaltenssteuerung der Menschen wird in nur sehr geringem Ausmaß durch ererbte biologische Strukturen ihrer Organismen, sondern primär durch symbolisch vermittelte, erlernte Verhaltensmuster und übermittelte Erfahrungen bestimmt.

Die Menschen können nicht nur, sie müssen lernen, um überleben zu können, sie sind im Unterschied zu anderen Lebewesen nur in geringem Maße instinktgesteuert.

Es besteht eine Disposition zum Lernen, eine, "biologisch bedingte relative Loslösung von biologischen Mechanismen" des Verhaltens (Text 1 S. 117); eine "relative Freisetzung von ungelernten Verhaltensmechanismen" (S. 118).

Die Art und Weise des menschlichen Zusammenlebens, sowohl die Formen der Gesellschaftsbildung als auch die zwischenmenschlichen Kommunikationsformen sind bei der Gattung Mensch zwar auf spezifische Weise durch physiologische Gegebenheiten bedingt, jedoch bleiben die psychischen Steuerungsfunktionen dieser Strukturen durch individuelle Lernprozesse wandelbar, welche relativ autonom von biologischen Mechanismen ablaufen (Text 1, S.117 ; Text 2, S.260).

Im Vergleich zu Tieren auf niedrigerer Integrationsebene hat sich die Balance zwischen angeborener und erlernter Verhaltenssteuerung bei den Menschen in Richtung Lernen verschoben (Text 3, S.337).

Die "Apparatur des Lernens" (u.a. das Großhirn) ist bei den Menschen biologisch angelegt, wie es bei manchen höher entwickelten Tieren auch der Fall ist, aber Menschen sind in weit höherem Maße vom Erlernen der Verhaltenssteuerung abhängig.

Hieraus ergibt sich evolutionär betrachtet nicht nur die Möglichkeit zur Bildung menschlicher Gesellschaften, sondern eine biologisch verankerte Gesellschaftsbezogenheit der Menschen. Menschen sind nur in und durch Gesellschaften lebens- und überlebensfähig. Das Verhalten eines Menschen erwächst aus den spezifischen gesellschaftlichen Figurationen, in denen er lebt.

Die Fähigkeit zum Lernen bringt eine enorme Adaptionsfähigkeit der menschlichen Spezies mit sich: die menschliche Anpassung an verschiedenste Lebensräume erfolgte primär durch soziale und kulturelle Lernprozesse, und nicht durch biologische (genetische) Veränderungen. (Text 5, S. 39: "99,8 Prozent aller Gene sind bei allen Menschen gleich, egal wo, unter welchen Bedingungen und in welcher Kultur diese Menschen leben" ). Tierische Gesellschaften ändern sich (mit wenigen Ausnahmen) nur, wenn sich die biologische Spezies selbst ändert.

 

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Die zwei Naturen der Menschen

Menschen besitzen also biologisch vorgegebene Verhaltensstrukturen wie ihre Triebe, Reflexe und Überlebensinstinkte (Hunger, Fortpflanzungstrieb) - ihre "erste Natur" - welche jedoch aufgrund der Disposition zum Lernen immer mit gesellschaftsspezifisch erlernten Strukturen der Verhaltensteuerung organisch (neuronal) verknüpft werden  (Text 2, S.255; Text 4, S. 50f).
Diese erlernten Komponenten des Verhaltens, zum Beispiel die Sprache, die Emotionen und das Gewissen sind spezifisch menschlich, haben eine natürliche Grundlage, und werden immer gesellschaftsspezifisch und in individuell unterscheidbaren Prozessen erlernt.

Im menschlichen Gedächtnis wird Gelerntes und Erfahrenes selektiv gespeichert und wirkt dann steuernd auf Verhaltens-, Empfindens-, Denk- und Wahrnehmungsformen. Der individuelle menschliche Lern- und Entwicklungsprozess kristallisiert also im Organismus eines Menschen. (Text 2, S.250f)

Diese erlernten Verhaltensstrukturen werden meist so stark verinnerlicht, werden im Bild eines Menschen von sich selbst zur Selbst-verständlichkeit, so dass dieses Selbstbild als "natürlich" erscheint, es wird habitualisiert, zu seiner "zweiten Natur".

Jeder Mensch verhält sich so mit einem individuell geprägten Habitus. Die menschliche Gedächtnisleistung ist also auch Grundlage der individuellen Identitätsbildung eines Menschen.

 

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Literaturangaben

Die Distanzierungsfähigkeit der Menschen

Mit der Fähigkeit, Erlebtes und Gelerntes im Gedächtnis zu behalten und nach Bedarf abzurufen, besitzt die menschliche Gattung also auch eine Sonderstellung, die Fähigkeit zur Langsicht zu entwickeln. Menschen können sich aufgrund ihres Gedächtniswerkzeugs in Gedanken und mit Hilfe von Symbolen von der momentanen Situation, ihren Affekten und Emotionen distanzieren, und z.B. über vergangene oder zukünftige Ereignisse nachdenken. Auf diese Weise haben Menschen die Möglichkeit, ihrer eigenen Person und ihrem Handeln reflektierend gegenüberzutreten und sich ein Bild von sich selbst zu machen; sich ihrer eigenen Identität bewusst zu werden. (Text 2, S.251)

Dies wiederum ermöglicht ihnen, ihr Verhalten langfristig zu planen und sich im Voraus auf Situationen vorzubereiten. Das Gedächtnis ist somit auch die Voraussetzung um z.B. gezielt Erfahrungen an spätere Generationen weitergeben zu können, um methodisches Verhalten zu entwickeln oder um Werkzeuge herzustellen.
Langfristige Prozesse betrachtet, ist es vor allem das symbolisch fixierte und übermittelte Wissen, das über viele Generationen hinweg eine verhaltens- und handlungssteuernde Funktion innehat.

Auch Art und Grad der Distanzierungsfähigkeit und der Fähigkeit zur Langsicht werden gesellschaftsspezifisch entwickelt und weisen daher Unterschiede sowohl zwischen verschiedenen Menschengruppen als auch zwischen den Individuen auf.

 

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Literaturangaben:

Readertext 1: aus: Norbert Elias: Was ist Soziologie?, Weinheim und München 1996 [1970]

Readertext 2: aus: Norbert Elias: Die Gesellschaft der Individuen, FfM 1994 [1987]

Readertext 3: aus: Norbert Elias: Über Menschen und ihre Emotionen  in: Roland Posner (Hrsg.): Zeitschrift für Semiotik, Bd.12, Heft 4, Tübingen 1990

Readertext 4: aus: Peter L. Berger & Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, FfM 1997

Readertext 5: aus: Thomas Hylland Eriksen: Small Places, Large Issues. An Introduction to Social and Cultural Anthropology, London, 1997

Readertext 6: aus: David Pilbeam: The Ascent of Man, New York / London 1972

Readertext 7: aus: Bernard G. Campbell: Human Evolution. An Introduction to Man's Adaptations, Chicago 1966

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